Zellgeflüster

Zellgeflüster
Lange war es nicht viel mehr als eine Ahnung, heute wird die Sache greifbarer: Unsere Zukunft liegt in der Verbindung von Bewusstsein und Zelle.
Von Martin Frischknecht

Als ich zum ersten Mal davon hörte, winkte ich gleich ab. Das ist bei mir so etwas wie ein professioneller Reflex. Er hat sich im Verlaufe meiner jahrzehntelangen Beschäftigung mit esoterischen Themen herausgebildet. Ich höre zu, lese, nehme auf, und zugleich denkt es in mir: «Ach ja, muss es denn gleich wieder so eine hochfahrende Behauptung sein? Danke, aber nicht mit mir.» Innerlich winke ich ab, und damit schütze ich mich vor der Überflutung durch irgendein modisches Heilsversprechen, das morgen schon wieder vergessen und durch eine neue Verheissung verdrängt sein wird.

«Zellbewusstsein», das klingt doch wieder ganz nach einem solchen hochtrabenden Irrläufer. Da gibt es Leute, die von sich behaupten, durch positive Gedanken oder durch die Verbindung zu einer überirdischen Instanz ihre DNA umbauen zu können, und daneben fast bescheidener auch solche, die sich mit ihren Zellen verständigen, um diese in einen optimalen Gesundheitszustand zu bringen und – wenn schon, denn schon – ihre Zellen als Sprungbrett auf die nächste Stufe der Evolution verwenden. Als wäre es nicht bereits eine prima Errungenschaft, wenn wir uns mit dem Rüstzeug, das uns derzeit zur Verfügung steht, auf der Stufe, auf der wir uns befinden, ein wenig sinnvoller und in dem Sinne erleuchteter verhalten würden. Aber nein, die Veränderung soll von ganz innen kommen, sie soll dort ihren Anfang nehmen, wo wir auf tiefster Ebene lebendig sind, was sich jedem Begreifen durch unseren Verstand jedoch entzieht.

Die Zelle ist der kleinste Baustein des Lebens, sie misst zwischen 1 und 30 Mikrometer und ist für das blosse menschliche Auge unsichtbar. 10 000 Zellen zusammen lassen sich im Metallknopf einer Stecknadel unterbringen. Rund 100 Billionen Zellen bilden zusammen einen erwachsenen Menschen. Jede Zelle besteht aus Billionen von Molekülen, und diese wiederum setzen sich zusammen aus Billionen von Atomen. Kurzum: In uns steckt ein unermessliches Gedränge an Bausteinen des Lebens, und die Mitglieder der einzelnen Zellvölker sind einem ständigen Stirb-und-Werde-Prozess unterworfen. Wenn wir uns das gesamte Gebilde in seiner Schönheit und Komplexität vor Augen führen, bleibt uns im Grunde nichts anderes, als voller Bewunderung zu staunen.

So ein reibungslos funktionierendes Gebilde wie den eigenen Organismus haben wir Menschen bislang nicht zustande gebracht. Vergleicht man das Funktionieren einer Weltorganisation wie der UNO mit dem mühelosen Zusammenspiel der menschlichen Zellen und Organe, wird auf einen Schlag klar, dass wir als Menschheit noch einen sehr weiten Weg vor uns haben. «Jedes Volk der Erde leistet seinen Beitrag an die gesamte Menschheit, jedes Organ tut seinen Dienst für die Gesamtheit des Organismus», erläuterte der amerikanische Zellbiologe Bruce Lipton im SPUREN-Interview diesen Vergleich. «Hier wie dort ist man eingebunden und kann sich nicht um das Wohl der anderen foutieren. Wenn unsere Zellen sich so aufführen würden, wie wir Menschen es tun, würden wir sehr rasch krank werden.»

Schlüssel der Evolution

Wieder ein Hinweis, dass der Schlüssel zur Zukunft in unseren Zellen liegt. Hier eine visionäre Stimme aus früherer Zeit: «Die nächste Spezies findet im Körper statt. Das ist offensichtlich. Solange es nicht im Körper, auf der physiologischen Ebene der Zellen, geschieht, bleibt es noch eine fremdsprachige Übersetzung durch die Schichten des Schlafes, der Ekstase oder Meditation, die uns alle möglichen kleinen gebrochenen Strahlen und mehr oder weniger fabelhafte oder romanhafte Geschichten liefert, die trotzdem Ausdruck von etwas sind, ähnlich dem, was ein Goldfisch durch die Glaswand seines Aquariums vom Menschen erhaschen kann.»

Das postulierte Anfang der 80er-Jahre der französische Autor Satprem, und er sagte dies nicht aus einer Lust und Laune heraus, sondern aufgrund seiner jahrzehntelangen Schulung im Aurobindo-Ashram von Pondycherry in Südindien. Dort unterhielt er sich in wöchentlichem Rhythmus mit Aurobindos Gefährtin Mirra Alfassa, die eine Transformation durchlief und ihm mit grosser Offenheit darüber berichtete. Im Körper dieser Frau, die von ihren Anhängern als Mutter bezeichnet wurde, vollzogen sich im fortgeschrittenen Alter Prozesse, die sie als beispielhaft für die Entwicklung des Menschen verstand. Mitte September 1958 protokollierte Satprem diese Aussage von ihr:

«Neulich kam es oben in meinem Badezimmer und ergriff den ganzen Körper. Es stieg auf: Alle Zellen bebten. Und mit einer Macht! Ich liess es sich entwickeln, die Schwingung wurde immer stärker, immer weiter. Alle Körperzellen wurden in eine Intensität der Aspiration gezogen, …als würde der ganze Körper sich ausdehnen – ungeheuer. Mein Eindruck war, alles würde bersten. Und es besitzt eine solche transformative Macht! Der Eindruck, wenn ich das fortsetzte, würde etwas geschehen, ein gewisses Gleichgewicht der Körperzellen würde sich verändern.» Satprem war überzeugt, «Mutter» sei «die ungeheuerlichste Revolution, die der Mensch je vollbrachte, seit eines Tages in einer Lichtung in der Jungsteinzeit ein erster Hominid damit begann, die Sterne und seine Schmerzen zu zählen».

Physis der Veränderung

Eine masslose Behauptung, gewiss, allenfalls nachvollziehbar, wenn man sich das innige, über Jahrzehnte währende Lehrerin-Schüler-Verhältnis der beiden vor Augen hält. Doch darum geht es hier nicht. Vielmehr fasziniert die Tiefendimension, die in Satprems Bericht deutlich zum Ausdruck kommt. Was er über den Transformationsprozess seiner Meisterin schreibt, wird in der spirituellen Literatur üblicherweise als Erleuchtung bezeichnet. Mit dem Begriff verbinden sich allerhand schwärmerische Vorstellungen, hauptsächlich aber die einer Vergeistigung und Höherentwicklung in Sphären, die weit über die Körperlichkeit des Menschen hinausreichen. Hier aber ist es gerade umgekehrt: Für «Mutter» stand die Physis der Veränderungen im Zentrum; in geradezu verwirrender Deutlichkeit bezog sie sich auf die kleinsten Einheiten des Lebendigen in sich und betonte die Leibgebundenheit der Vorgänge. Die Zelle war für sie so etwas wie eine geheime Sprungfeder, mit deren Hilfe sich unsere irdischen Lebensbedingungen umwandeln lassen. Und diese Transformation vollzog sich in ihr Zelle für Zelle über einen Zeitraum von gut zwei Jahrzehnten. Dass es dabei nicht um sie als Einzelwesen ging, sondern um die Menschheit insgesamt, stand für sie ausser Frage.

Wie gesagt, das ist lange her. Mirra Alfassa verstarb 1973 im Alter von 95 Jahren. «Mutter» verliess ihren Körper, obwohl aufgrund ihrer eigenen Aussagen und den Visionen ihres spirituellen Mentors und Gefährten Sri Aurobindo (1872-1950), der die Heraufkunft des «Übermenschen» verkündigt hatte, zumindest unter den Anhängern irgendwie die Erwartung im Raum gestanden hatte, sie sei durch die «supramentale Kraft» Aurobindos und den eigenen Wandlungsprozess unsterblich geworden. Ihre Agenda, aufgezeichnet von Satprem, erschien als stattliches Werk von 13 Bänden. Die Veröffentlichung ihrer Hinterlassenschaft wurde jedoch behindert und verzögert durch heftige Querelen des Autors mit dem Ashram, ein Zerwürfnis, das auch den Aufbau der damals neu begründeten Zukunftsstadt Auroville belastete. Der von Aurobindo propagierte Weg eines «integralen Yoga» vermochte keine Breitenwirkung zu entfalten, und schon gar nicht berichteten nach Mirra Alfassa und Satprem weitere Menschen von ähnlich wundersamen Wandlungen ihrer Zellen.

«Sog der Zellen»

Diesen Frühling bekam ich einen Anruf von Erika Wissmann. Die Zürcher Craniosacral-Therapeutin erzählte mir von ihren Erkenntnissen und Erfahrungen mit Meditation und Zellbewusstsein. Ich spulte die übliche Platte ab, machte die mir unbekannte Anruferin darauf aufmerksam, dass bei uns niemand in eigener Sache schreibt und wir in aller Regel mit Themen gut eingedeckt sind. Davon liess sie sich nicht abschrecken. Im Gegenteil. Diese Haltung sei es, was sie an unserer Zeitschrift gerade schätze, darum wende sie sich an mich. Hm. Ich machte mir einen Tee und begann, ihr besser zuzuhören.

Es wurde ein langes Gespräch. Ich wunderte mich – nicht zuletzt über mich selber. Was sie erzählte, klang abgefahren und wild, doch zugleich spürte ich, dass die Frau gut Boden unter den Füssen hatte und von etwas bewegt wurde, das mir vertraut schien. Schwierig zu sagen, was das ist. Steven Harrison kam mir in den Sinn, der amerikanische Mystiker, von dem ich einige Bücher verlegt habe und der sich mit viel Witz und Vehemenz immer wieder erfolgreich der Rolle eines Gurus entzieht. Ich schickte ihr Literatur von Steven und meldete mich an zu einem Tagesseminar bei ihr.

Über Zellbewusstsein habe ich an diesem Samstag in einer Yogapraxis im Zürcher Oberland mit knapp einem Dutzend Kursteilnehmerinnen nicht wesentlich mehr erfahren. Denn erfahren heisst bei Erika Wissmann, dass man die Sache im eigenen Körper empfindet und in sich ein untrügliches Gespür dafür entwickelt, wie sie sich für einen selbst anfühlt. «Explorieren» nennt sie das, liefert dazu in geführten Meditationen einige Anstösse, hütet sich aber davor, das zu Erfühlende für andere zu benennen oder zu kartografieren. Vielmehr erwartet sie von den Beteiligten aktives Mittun und überlässt die Leitung ganzer Kurssequenzen einzelnen Teilnehmerinnen, denen sie das zutraut.

Der «Sog der Zellen», von dem sie spricht, ist an diesem Tag an mir vorbeigerauscht. Auch, als sie auf vielfachen Wunsch jener Beteiligten, die mit ihrer Arbeitsweise bereits vertraut waren, in Aussicht stellte, in einer weiteren Meditation energetisch zu «schuben», hat mich diese Welle nicht wahrnehmbar erreicht. Beeindruckt war ich hingegen vom Zusammenspiel der Gruppe. Obwohl viele der Teilnehmerinnen seit Jahren bei ihr in Einzelstunden sind und ihre Kurse besuchten, haben sie ihr Leben nicht auf sie als ihre Lehrerin oder als Eminenz im Hintergrund ausgerichtet. In dem Kreis begegnete ich kernigen, unabhängigen Frauen, jede auf ihre Weise unterwegs zu sich selbst, von so etwas wie Sektenbildung keine Spur. Entsprechend vielfältig fielen die Aussagen aus zu den Erfahrungen mit Zellbewusstsein, eine Ausrichtung, welche Erika Wissmann bei der Gelegenheit zum ersten Mal einer Gruppe vorstellte.

Zum Kern des Seins

Zwei, drei Wochen später sass ich ihr gegenüber in ihrer Praxis in Forch bei Zürich. Wieder staunte ich über die fröhliche Leichtigkeit, in der wir uns verständigten und uns die Themen wie Bälle zuspielten. Obwohl sie überzeugt ist, in sich Wesentliches entdeckt und erfahren zu haben und sie daraus für sich durchaus eine Bestimmung ableitet, lässt die gelernte Psychiatrieschwester ihrem Gegenüber ein hohes Mass an Freiheit und gibt zu verstehen, dass sie aufgrund des eigenen Lebensweges mit einem weiten Spektrum des Menschlichen vertraut ist und damit umzugehen weiss.

Nach einem Sturz vom Pferd litt sie an erweiterten Wahrnehmungsstörungen und neurologischen Ausfällen. Jahrelang, so bekennt sie freimütig, war sie in psychotherapeutischer Behandlung, und es habe in jener Zeit so ziemlich jede Diagnose zu ihr gepasst. Doch der Arzt, der sie damals behandelte, habe verstanden, dass ihr mit den klassischen Mitteln seiner Profession nicht zu helfen war. Stattdessen habe er dem inneren Prozess vertraut, den sie zu durchlaufen hatte und sie mehr schützend als intervenierend begleitet. Später fand sie zu einer spirituellen Mentorin, die ihr in jahrelanger Kleinarbeit die Richtung zu sich selber wies. Dabei habe sie zu unterscheiden gelernt zwischen dem «wirklich Wahren in der Wahrnehmung und mentalen Gebilden», zwischen dem «Innen-Innen» und einem «Aussen-Innen», jenem Mischmasch aus eigener Wahrnehmung und fremden Konzepten, wie es in der Esoterik leider überall anzutreffen sei.

Mit «Zellbewusstsein» meint Erika Wissmann eine Verankerung auf jener innersten und dichtesten Ebene, wo wir unverkennbar wir selber sind. Die Zellteilung stehe am Anfang unseres Lebens als Organismus Mensch; ins Innerste des Physischen sei der Lebensfunke des Feinstofflichen getreten, und mit diesem Geschehen gelte es, sich wieder zu verbinden. So wie wir heute lebten, präsentierten wir uns durch den mentalen Dauerbetrieb weit offen wie eine aufgezogene Handorgel. In der Meditation auf das Zellbewusstsein werde diese Handorgel zusammengestossen zu einem Grundton aus engstem Raum, zum Kern unseres Seins.

 Die Richtung stimmt

Also gut. Verstehen kann ich das zwar nicht, aber vielleicht gelingt es, einen Geschmack davon zu erhaschen. Erika Wissmann und ich sitzen uns gegenüber. Sie heisst mich, die Augen zu schliessen und lenkt meine Aufmerksamkeit nach innen. Und tatsächlich, nach einer gewissen Anlaufzeit tut sich etwas. In mir stellt sich eine tiefe Stille ein. Dann beginnt es zu kribbeln, in meinem Bauch zu glucksen und blubbern. Entspannung macht sich breit, zugleich bin ich hellwach. Als ich die Augen aufschlage, ist rund eine Stunde vergangen. Ich fühle mich erfrischt und beglückt, verankert in einer Mitte, die sich wie selbstverständlich anfühlt, mir im Verlaufe des Lebens aber irgendwie abhanden gekommen sein muss.

Diese innere Ausrichtung hält in den folgenden Tagen an, dann beginnt sie im Getriebe des Alltags zu verblassen. Doch die Erinnerung bleibt mir erhalten. Ein zweiter Besuch bei der 50-jährigen Therapeutin auf dem Hügel zwischen Zürich- und Greifensee lässt mich auf neue Weise mit diesem Dreh- und Angelpunkt meines Lebens in Verbindung treten. Erstaunlich. Und schwer zu benennen. Auch Erika Wissmann hat dafür weder eine Theorie noch plausible Erklärungen. Stattdessen betont sie die Einzigartigkeit jedes Menschen als einmalige Verkörperung des Lebens mit ihren je eigenen Herausforderungen.

«Es gibt tatsächlich in uns drin eine wesenhafte, einheitliche Gestalt, welche mich ehrfürchtig aufhorchen lässt», sagt sie aus eigener Erfahrung. «Es tut noch sehr weh, diese Gestalt zu verkörpern, und sie entwischt mir auch immer wieder. Was ich jedoch erlebe, überragt mein Denken und Vorstellen. Wüsste ich mittlerweile nicht, dass ich meiner Wahrnehmung trauen kann, hätte ich es wohl längst verworfen. Tun kann ich gar nichts. Es geht nur über das Einlassen und Zulassen: das Bewusstsein darauf fokussieren, explorieren und sich dem hingeben, was und wie es ist, bis es sich aus sich selbst heraus wandelt.»

Wieder begegnen wir hier dieser Mischung von biologischer Grundlage und subjektivem Erleben. Ich halte sie mittlerweile für ein Charakteristikum der mystischen Beschäftigung mit Zelle und Bewusstsein. Was ich davon meine begriffen zu haben, begeistert mich so sehr, dass ich wild entschlossen bin, meinen Weg weiterzugehen, ob auf dem Wegweiser nun «Zellbewusstsein» oder eine andere Destination steht. Die Richtung stimmt.

 Erika Wissmann

Erika Wissmann

Link: www.erika-wissmann.com

Dieser Artikel erschien zuerst in Spuren WebSite: www.spuren.ch

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Photos: www.fotolia.com

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