von Martin Frischknecht
Wenn das Wetter wärmer wird und freundlich, zeigt sich die Welt, wie wir sie am liebsten haben. Freundlich strahlend lädt sie ein, sie zu bewundern. Wer jetzt nicht Musse hat oder sie sich nimmt, der verpasst womöglich, worum das Ganze geht: Nichts tun, Dasein, Geniessen. Das tun, wozu wir geschaffen wären. Wenn da nicht die Sandflöhe wären, das Schreien der Kinder, das Brumsen und Sumsen im Kopf. Das Denken. Lässt es sich abschalten?
Eine Gruppe von knapp zwanzig Menschen lagert unter einem weit ausladenden alten Baum. Einige sitzen auf weissen Plastikstühlen, andere haben es sich mit Matten auf dem Gras bequem gemacht. Die Hälfte sitzt in der Sonne, die Hälfte im Schatten. Ab und zu steht einer auf und wechselt von Warm zu Kühl und umgekehrt. Ein laues Lüftchen umspielt die Gesichter. Am Himmel kreisen Milane und Gleitschirme, aus der Ferne ist gelegentlich der Schrei eines Pfaus und das heisere Brüllen eines Esels zu hören.
Eine junge Frau, die am Boden sitzt, stillt ihr Kind, bis es ihr in den Armen wegdöst. Ein Vater liegt auf einer Reisstrohmatte und spielt mit seinem Baby. Von dem sind ab und zu Laute des Vergnügen zu vernehmen. Sonst ist es still. Wir sitzen im Kreis und schweigen.
Die meisten halten die Augen geschlossen, einige sitzen mit offenen Augen da, blicken entspannt in die Runde. Ein Bild der Harmonie und des Friedens. Im Hintergrund erklingt leises Klappern von Küchengerät. Das Menue hängt seit Tagesanbruch an der Türe zum Essraum. Um eins wird es dampfend vor uns auf dem Tisch stehen.
So lässt sich gut sein. Wir sind Grossmütter, Väter, Mütter, Paare, Einzelne, Kinder, Schweizer, Amerikaner und Inder. Wir sind teils von weit her gekommen, um im Berner Oberland während gut einer Woche zusammenzusein. Uns verbindet ein Anliegen, das schlichter kaum sein könnte: Wir wollen nichts tun, und das konsequent.
Natürlich kennen wir alle diese schönen Stunden aus unserem Alltag, in denen wir nichts zu tun haben, Momente, in denen wir uns treiben lassen und einfach sind. Das Ticken der Uhr vergessen, den Computer ausschalten, die Zeitung beiseite legen, den Fernseher gar nicht erst anmachen, die Agenda schliessen, durchatmen und aufschauen, den Himmel betrachten, den Ausblick, die Wolken, das Gesicht eines anderen sehen, ihm in die Augen schauen, ohne etwas von ihm zu wollen – das tut gut. Es stellt sich ein Gefühl ein von “Aha, das ist es also, wozu ich ständig unterwegs bin, wofür ich mich anstrenge, wozu ich einkaufen gehe, koche, abwasche, arbeite, hin- und herfahre, telefoniere, organisiere und stresse. Darum dreht sich das ganze Geschiebe und Getriebe, dieses unablässige Streben und Machen. Das alles hat ein Ziel: Sein. Den Liegestuhl habe ich gekauft, um darin zu liegen. Dieses Buch habe ich nach Hause getragen, um es zu geniessen. Und die Welt, sie wartet nur darauf, von mir mit all meinen Sinnen wahrgenommen zu werden. Sie ist schön, wie sie ist. Um das erfahren, brauche ich mich bloss zu entspannen und zu sein.
Ah, das tut gut. Habe ich das nicht schon mal geschrieben? Und schreiben wollte ich doch eigentlich gar nicht. Doch dann piepste es in meinem Hosensack. Als Organisator und Übersetzer beim Retreat mit dem schönen Titel “Nichts tun” trage ich das sprechende Kästchen stets bei mir. Oft ist es ausgeschaltet. An diesem Morgen war es nicht. Am anderen Ende sprach eine allein gelassene Redaktorin dieser Zeitung.
Ob ich Lust habe, etwas fürs Stadtblatt zu schreiben. Das Thema stehe mir frei. Ich habe nur eines im Sinn: Nichts tun.
Mit Schreiben hat das nichts zu tun. Gerade nicht. Denn wenn wir es recht bedenken, wenn wir uns umsehen nach der Quelle unseres Tuns, wenn wir festellen wollen, was uns Tag und Nacht umtreibt, stossen wir über kurz oder lang unweigerlich auf das Denken. In uns gibt es eine Stimme – eine mindestens! – und die sagt uns fortwährend, was Sache ist. So sehr, dass wir es uns längst zur Gewohnheit gemacht haben, das Geschwätz der Stimme für die Wirklichkeit zu halten. Das Resultat ist Geschwätz über Geschwätz und noch mehr Geschwätz. Wir glauben zwar, unser Denken sei ein Abbild von Dingen, die wir in uns und ausserhalb von uns vorfinden und uns über die Sinne zuführen. In Tat und Wahrheit beschäftigt sich unser Denken fast ausschliesslich mit sich selbst. Die Reize, die wir uns von aussen zuführen, sind fein bemessene Häppchen, die das Denken sorgfältig einteilt nach Zustimmung oder Ablehnung und im Rahmen der eigenen Vorgaben verwertet.
“Die Welt als Wille und Vorstellung” hiess das beim deutschen Philosophen Arthur Schopenhauer. Als ich vor vier Jahren zum ersten Mal mit Steven Harrison, dem amerikanischen Autor des Buches “Nichts tun – Am Ende der spirituellen Suche” (Edition Spuren, Winterthur 2000) durch Deutschland und die Schweiz unterwegs war, sassen wir in einem Eisenbahnabteil einem deutschen Philosophielehrer und dessen Frau gegenüber, die von Kanuferien im Tessin nach Berlin heimkehrten. Ich wollte mir die Gelegenheit nicht entgehen lassen und reichte dem Herrn Oberlehrer das frisch gedruckte Buch, um ihn mit dem Herrn Autor ihm gegenüber bekannt zu machen. Der Philosophielehrer öffnete das Werk, verweilte darin einige Minuten, überflog zwei, drei Kapitel. Dann gab mir der gelehrte Mann das Buch zurück und sagte triumphierend: “Reiner Schopenhauer”. Womit das Thema erledigt war.
Von Schopenhauer ist beim Retreat mit Steven Harrison diesen Sommer im Berner Oberland nicht die Rede. Die Teilnehmer kümmern sich nicht um Philosophie. Sie ringen auf ihre Weise mit den grossen und kleinen Fragen des Lebens. Marianne, eine allleinstehende Bernerin zwischen vierzig und fünfzig, drückt es so aus: “ich will einen Mann, und ich will fortwährendes Glück.” Mit schalkhaftem Lächeln versucht Steven Harrison sie sanft zur Erkenntnis zu lotsen, dass das eine mit dem anderen vielleicht nicht zu vereinbaren sei. Doch Marianne will sich in der Sache nicht dreinreden lassen. Von Rücksichtnahme und guten Ratschlägen hat sie genug. Sie will leben, ganz und intensiv.
Das ist nun wieder typisch Denken. Mit dem Begriff “intensiv leben” sagen wir mehr aus über das, was nicht ist, als das, was da sein könnte. Wer sich nach einem intensiven Leben sehnt, signalisiert hauptsächlich, dass er mit dem Leben, welches sie oder er hier und jetzt führt, nicht zufrieden ist. Wie sollten wir auch? Mit einem Leben, das wir haben, können wir schlechterdings nicht zufrieden sein. Das liegt allerdings nicht am Leben sondern an dem, der sich einbildet, es zu haben. Denn nicht ich habe ein Leben, sondern das Leben hat mich.
Natürlich klingt das spitzfindig, doch entspricht es der umwerfenden Tatsache, dass sich so etwas wie ein “Ich” bei genauerer Untersuchung in uns gar nicht finden lässt. Stattdessen gibt es eine unablässige Kette von Gedanken, die um einen Ort kreisen, auf den sie sich alle beziehen. Je rasender die Abfolge des Denkens, desto gewisser wähnen wir deren zentraler Inhalt, das Ich. In Tat und Warheit handelt es sich um eine Leerstelle.
Das merken wir, wenn wir dem Denken das Futter entziehen, wenn wir es auslaufen lassen, wenn wir uns entspannen, bis die Kette der Gedanken abreisst und sich Leerräume eröffnen. Zwischen den einzelnen Gedanken ist nichts, und dieses Nichts ist das Eigentliche, der Hintergrund, vor dem sich das ganze Gebrumms und Gesumms entfaltet. Mystiker und Weise aller Zeiten und Traditionen haben auf diesen Zusammenhang hingewiesen; unter Sinnsuchern und Esoterikern unserer Zeit hat sich die Kunde herumgesprochen, und sie alle suchen dem Gefängnis des automatischen Denkens zu entfliehen.
Sie meditieren. Sich ruhig stellen, die Augen schliessen, auf den Atem achten und die Gedanken ziehen lassen, wie Wolken am Junihimmel. Und auf einmal scheint die Sonne. Sie war immer schon da, wir haben sie beim Geschiebe der Wolken nur mal kurz vergessen. Jetzt scheint die Sonne, jetzt hat sich eine Wolke davor geschoben, hinterher gleich eine zweite. Hin und her, unablässiges Kommen und Gehen. Mit der Zeit stellt sich diesem Betrieb gegenüber eine gewisse Gelassenheit ein. Wir verstehen, dass wir zum Wolkenverschieben nicht taugen und uns besser darauf verlegen, die Dinge zu nehmen, wie sie sind.
Fortwährendes Glück ist dadurch nicht errungen, und das “Ich” ist damit genauso wenig aus der Welt geschafft. Es kommt und geht, taucht auf aus dem Nichts und entschwindet zeitweilig wieder. Machen lässt sich dafür oder dagegen im Grunde nichts. Obwohl Meditation von vielen gerade so als Technik zum Erreichen eines abgehobenen, geklärten Bewusstseinszustandes missverstanden wird. Was zu nichts anderem führt, als einer neuerlichen Aufblähung des eigenen Ichs, welches nun vorgibt, sich auch noch selber aus dem Weg schaffen zu können.
Dagegen helfen Kinder. Meditierende, die ihr Denken ruhig stellen wollen, gehen ihnen tunlichst aus dem Weg. Sie ziehen sich zurück in die Einsamkeit abgelegener Ort, sie auferlegen sich Schweigen und unterziehen sich einem strikten Tagesablauf. Kinder haben unter solchen Vorgaben keinen Platz. Sie müssen draussen bleiben. Beim Retreat mit Steven Harrison taten wir es umgekehrt. Wir nahmen die Kinder in unsere Mitte. Längst nicht immer verhielten sie sich so andächtig und still wie im eingangs beschriebenen Bild der Idylle. Das taten sie eigentlich selten. Die Kinder spielten, sie schrien, tobten und tollten. Wir nahmen’s als Ausdruck des Lebens und achteten auf die Gefühle, die das in uns hochbrachte.
Auf die Weise blieb das intensive Leben nicht lange aus. Über die Anwesenheit und das Verhalten der Kinder wurde in der Gruppe zuweilen heftig gestritten. Die Diskussionen kamen und gingen. Wie die Wolken am Himmel, wie der spitze Schrei des Pfaus im benachbarten Garten, das Brüllen des Esels. Kommen und gehen. Die Entschlossenheit, mit der wir dabei blieben, bescherte uns jene erhabenen Augenblicke, in denen alles stimmte und zusammenspielte. So lange ich in Gedanken daran festhalte, wird sich ein neuer solcher Augenblick nicht einstellen. Der Rest ist Schweigen.
Rand Notiz:
Im Orient ist die Einsicht weit verbreitet, bei uns hat sie sich seit den Tagen der Romantik allmählich herumgesprochen: Das “Ich”, die menschliche Grösse, auf die wir so gut wie all unser Denken und Trachten beziehen, steht auf tönernen Füssen. “ich denke, also bin ich” – die Aussage des französischen Philosophen René Descartes bringt den Sachverhalt auf den Punkt. Denn sobald wir nicht mehr denken, wird der Kern unserer Persönlichkeit durchlässig und lässt den weiteren Zusammenhang des Lebens durchscheinen. Der amerikanische Mystiker Steven Harrison bringt diesen Sachverhalt in seinen Büchern auf radkile Weise zum Ausdruck. In “Sei wo du bist – Leben als Meditation” (Edition Spuren, Winterthur 2004) analysiert er scharfzüngig das Bemühen vieler Meditierender, mit Bemühen jenseits des Mühens zu gelangen.
Buch-Tipp:
Was kommt
Steven Harrison
Irgendwann ist es vorbei. Nach Jahren der spirituellen Suche, nach Zuständen der Verzückung und der Enttäuschung, nach Erfahrungen mit Gurus, geistigen Wegen, geheimen Einweihungen und Lehren, kommt der Punkt, an dem wir uns eingestehen: Das ständige Bemühen nach einer Verbesserung unserer selbst, der Versuch, ein glückseliges Leben zu führen in einem fortwährenden Jetzt, das Streben nach Erleuchtung, das alles ist an eine Grenze gestossen. Das Jetzt, dem wir uns hingeben wollten, liegt bereits hinter uns. Fragt sich, was kommt. Nicht um darauf eine bestimmte Antwort zu finden, stellt Steven Harrison diese Frage. Der amerikanische Mystiker richtet sein Augenmerk auf das Kommende als das Eigentliche. Nicht, was wir haben oder zu begreifen meinen, sondern das, was unmittelbar auf uns zukommt und von uns noch nicht erfasst wird, ist das Wirkliche – willkommen in der Post-Spiritualität!
Aus dem Amerikanischen von Boris Fittkau.
199 Seiten, gebunden, Euro 19.–, Fr. 29.–. ISBN 3-90575203-4
Lesen Sie auch das Interview mit Steven Harrison
Links:
Mehr von Harrison bei Edition SPUREN
Satsang with Steven Harrison on YouTube
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