Die unbändige Seele

Michael A. SingerDieses Buch beginnt ganz einfach, und es beginnt mit dem Offensichtlichen: Wir alle sind nahezu unablässig von Gedanken erfüllt, und dieses pausenlose Denken macht die Welt aus, in der wir leben. Doch eigentlich sind wir mehr als das. Im Grunde sind wir frei, uns steht eine unermessliche Energie zur Verfügung, und unsere Seele ist nicht dazu verurteilt, im Gefängnis schlechter Gewohnheiten und Ängste zu versauern. Im Gegenteil: Was wir wirklich sind, liegt jenseits der Begrenzungen von Raum und Zeit.

Michael Singer führt den Leser Schritt für Schritt dazu, die eigene Wahrnehmung zu beobachten und sich dem anzunähern, was hinter dem Fühlen und Denken steht. Erstaunlich, was für Möglichkeiten und Bereiche sich mit einem Mal auftun! Der amerikanische Yoga- und Meditationslehrer schöpft aus der eigenen Erfahrung, wenn er in einfacher Sprache und mit leicht nachvollziehbaren Beispielen den spirituellen Weg beschreibt. Er formuliert die Botschaft unvergänglicher Weisheit im Gewand unserer Zeit.

“Lesen Sie dieses Buch sorgfältig. Die unbändige Seele erlaubt Ihnen
mehr als bloß einen Blick in die Ewigkeit.” Deepak Chopra, Arzt und Autor

“Die unbändige Seele ist in der Tat eine der besten Abhandlungen über
das Wesen und die Schulung von zielgerichtetem Bewusstsein, die ich je
gelesen habe. Es ist der verständlichste mir bekannte Ausdruck von
dem, was wir sind und womit wir es beim Wachstum des Menschlichen zu
tun haben.” Jean Houston, Psychologin und Autorin

“Dieses Buch zeigt dem Leser auf klare und praktische Weise, wie er
zum wahren Ziel des menschlichen Lebens gelangt: zur Verwirklichung
des Selbst.” Bikram Choudhury, Yogalehrer

Wer bin ich?

Auszug aus dem Buch Die unbändige Seele
Mit freundlicher Genehmigung des Verlages “Edition Spuren”

Ramana Maharshi (1879-1950), ein großer Lehrer der yogischen Tradition, pflegte zu sagen, um zu innerer Freiheit zu gelangen, müsse man sich fortwährend und aufrichtig die Frage “Wer bin ich?” stellen. Er lehrte, dies sei wichtiger als Bücher zu lesen, Mantras zu erlernen oder heilige Stätten aufzusuchen. Fragen Sie sich einfach “Wer bin ich? Wer sieht, wenn ich sehe? Wer hört, wenn ich höre? Wer weiß, dass ich wahrnehme? Wer bin ich?”
Untersuchen wir diese Frage, indem wir ein Spiel spielen. Stellen Sie sich vor, Sie und ich würden ein Gespräch führen. Typischerweise ist es in der westlichen Kultur so, dass wenn jemand auf Sie zukommt und Sie fragt “Entschuldigung, wer sind Sie?”, Sie diesen Menschen nicht dafür tadeln, eine so schwere Frage gestellt zu haben. Sie sagen zum Beispiel Ihren Namen: Sonja Schmidt. Ich jedoch möchte diese Antwort hinterfragen, indem ich ein Blatt Papier hervorziehe, darauf die Buchstaben S-o-n-j-a S-c-h-m-i-d-t schreibe und Ihnen das Blatt dann zeige. Ist es das, was Sie sind – eine Ansammlung von Buchstaben? Ist es das, was sieht, wenn Sie sehen? Offenbar nicht, sagen Sie.
“Okay, Sie haben Recht. Tut mir leid, ich bin nicht Sonja Schmidt. Das ist der Name, mit dem man mich anspricht. Der Name ist ein Etikett. In Wahrheit bin ich Frank Schmidts Frau.”
Nein, das ist unmöglich, diese Aussage ist heutzutage nicht mal mehr politisch korrekt. Wie können Sie Frank Schmidts Frau sein? Wollen Sie denn etwa behaupten, Sie hätten nicht existiert, bevor Sie Frank Schmidt kennenlernten, und Sie würden aufhören zu existieren, wenn der Mann sterben oder Sie sich neu verheiraten würden? Frank Schmidts Frau kann nicht sein, wer Sie sind. Das ist wieder nur ein Etikett, das Ergebnis einer anderen Situation oder Begebenheit, an der Sie teilhaben. Wer aber sind Sie dann? Diesmal antworten Sie:
“Okay, jetzt habe ich Sie verstanden. Mein Etikett ist Sonja Schmidt. Ich wurde 1965 in Berlin geboren. Ich wohnte mit meinen Eltern, Franz und Ursula Grünwald, bis zu meinem fünften Lebensjahr in Neukölln. Dann zogen wir nach Bayern, und ich besuchte die Grundschule in Nürnberg. Ich hatte in der Schule lauter Einsen, und in der fünften Klasse spielte ich die Rolle der Dorothy im ‹Zauberer von Oz›. Ab der neunten Klasse begann ich mit Jungs auszugehen, und mein erster Freund hieß Joe. Ich besuchte das Hans-Sachs-Gymnasium und lernte dort Frank Schmidt kennen, den ich später heiratete. Jetzt wissen Sie aber, wer ich bin.”
Moment mal, das ist eine faszinierende Story, aber ich habe Sie ja nicht gefragt, was seit Ihrer Geburt in Ihrem Leben passiert ist. Ich habe gefragt: “Wer sind Sie?” Sie haben mir all diese Erlebnisse geschildert, aber wer ist es, der diese Erlebnisse hatte? Würden Sie denn nicht in Ihrem Körper stecken und sich Ihrer Existenz bewusst sein, falls Sie ein anderes Gymnasium besucht hätten?
Also denken Sie nach und stellen fest, dass Sie sich diese Frage so noch nie in Ihrem Leben gestellt und sie ganz bestimmt auch nie wirklich so gemeint haben. Wer bin ich? Das ist es, was Ramana Maharshi fragte. Also sinnieren Sie etwas ernsthafter und sagen:
“Okay, ich bin der Körper, der diesen Raum einnimmt. Ich bin einen Meter siebzig groß und wiege fünfundsechzig Kilo, und hier bin ich.”
Als Sie in der fünften Klasse die Rolle der Dorothy in “Der Zauberer von Oz” spielten, waren Sie noch keinen Meter siebzig groß, sondern nur einen Meter fünfunddreißig. Welche von beiden sind Sie nun? Die eins siebzig große oder die eins fünfunddreißig große Person? Waren Sie nicht in diesem Körper, als Sie Dorothy darstellten? Sie sagen, Sie seien es gewesen. Waren es nicht Sie, die das Erlebnis hatten, in der fünften Klasse in einem Theaterstück Dorothy zu verkörpern, und sind es nicht Sie, die nun das Erlebnis haben, eine Antwort auf meine Fragen zu suchen. Ist das nicht dasselbe Gegenüber?
Vielleicht sollten wir kurz innehalten und ein paar Informationen einholen, ehe wir zur Kernfrage zurückkehren. Als Sie zehn Jahre alt waren, hatten Sie da im Spiegel keinen zehn Jahre alten Körper gesehen? War das nicht das gleiche Gegenüber, das jetzt einen Erwachsenenkörper sieht? Was Sie im Spiegel sehen, hat sich geändert; doch was ist mit Ihnen, derjenigen, die sieht? Hat Ihr Wesen Kontinuität, oder nicht? War es nicht dasselbe Wesen, das in all den Jahren in den Spiegel blickte? Darüber müssen Sie sehr sorgfältig nachdenken. Ich stelle Ihnen noch eine Frage: Wenn Sie nachts schlafen, träumen Sie da? Wer träumt? Was bedeutet es, zu träumen? Sie antworten: “Na ja, das ist, als würde sich in meinem Geist ein Film abspulen, und den sehe ich mir an.” Wer sieht ihn sich an? “Na, ich!” Dieselbe, die in den Spiegel blickt? Sind Sie das, die diese Zeilen liest, das gleiche Wesen, das in den Spiegel blickt und sich die Träume ansieht? Wenn Sie aufwachen, wissen Sie, dass Sie einen Traum geträumt haben. Demnach gibt es eine Kontinuität in der bewussten Wahrnehmung des Seins. Ramana Maharshi hat nur ein paar simple Fragen gestellt: Wer sieht, wenn Sie sehen? Wer hört, wenn Sie hören? Wer sieht sich die Träume an? Wer betrachtet das Bild im Spiegel? Wer ist es, der all jene Erlebnisse hat? Wenn Sie versuchen, auf ehrliche und intuitive Weise zu antworten, werden Sie ganz einfach sagen: “Ich. Ich bin es. Ich stecke in meinem Körper und erlebe all das.” Das ist so ziemlich die beste Antwort, die Sie haben.
Es ist in der Tat recht leicht zu erkennen, dass Sie nicht die Gegenstände sind, die Sie betrachten. Es ist ein klassischer Fall von Subjekt-Objekt. Sie, das Subjekt, sind es, der die Objekte betrachtet. Wir müssen also nicht erst sämtliche Objekte im Universum durchgehen, um festzustellen, dass Sie dieses oder jenes Objekt nicht sind. Wir können ganz verallgemeinernd sagen: Wenn Sie diejenige sind, die etwas betrachtet, kann dieses Etwas nicht Sie sein. So wissen Sie im Handumdrehen, was Sie nicht sind: Sie sind nicht die äußere Welt. Sie sind diejenige im Inneren, die in die Welt hinausblickt.
Das war einfach. Jetzt haben wir schon mal die zahllosen Dinge der äußeren Welt ausgeschlossen. Aber wer sind Sie? Und wo sind Sie, wenn Sie sich nicht unter all den anderen Dingen in der Außenwelt befinden? Sie müssen einfach nur achtgeben und erkennen, dass Sie, auch wenn die Objekte der Außenwelt alle verschwinden würden, noch immer da drin steckten und Gefühle erleben würden. Stellen Sie sich vor, wie viel Angst Sie empfinden würden. Sie würden vielleicht auch Frustration empfinden, vielleicht auch Wut. Aber wer würde all das empfinden? Wieder sagen Sie “Ich!”. Und diese Antwort ist richtig. Das gleiche “Ich” erlebt sowohl die äußere Welt als auch die Emotionen im Innern.
Um Ihnen dies zu verdeutlichen, stellen Sie sich vor, Sie würden draußen einem Hund beim Spielen zusehen. Plötzlich hören Sie direkt hinter sich ein Geräusch – ein Zischen, wie von einer Klapperschlange. Würden Sie dem Hund jetzt noch mit derselben ungeteilten Aufmerksamkeit zusehen? Natürlich nicht. Sie würden in sich eine Heidenangst verspüren. Obwohl der Hund noch immer vor Ihren Augen spielen würde, wären Sie nun völlig beschäftigt mit dem Erleben von Angst. Ihre gesamte Aufmerksamkeit kann sehr schnell in Ihren Emotionen aufgehen. Doch wer verspürt die Angst? Ist es nicht dieselbe Einheit, die dem Hund zugesehen hatte? Wer verspürt Liebe, wenn er Liebe verspürt? Kann man nicht so viel Liebe verspüren, dass es einem schwerfällt, die Augen offen zu halten? Sie können derart in schönen inneren Empfindungen oder erschreckenden inneren Ängsten aufgehen, dass es Ihnen schwerfällt, Ihr Augenmerk auf äußere Objekte zu richten. Im Wesentlichen ist es so, dass innere und äußere Objekte um Ihre Aufmerksamkeit konkurrieren. Sie stecken da drin und haben sowohl innere als auch äußere Erlebnisse – aber wer sind Sie?
Um dies genauer zu untersuchen, beantworten Sie mir eine weitere Frage: Gibt es manchmal Zeiten, zu denen Sie nicht ausreichend emotionale Erlebnisse haben und Sie sich stattdessen innerlich nur ruhig fühlen? Sie stecken dann noch immer da drin, doch alles, was Sie wahrnehmen, ist friedliche Stille. Irgendwann wird Ihnen klar, dass die äußere Welt und der Strom innerer Emotionen kommen und gehen. Sie aber, derjenige, der all diese Dinge erlebt, nehmen weiterhin bewusst wahr, was sich vor Ihren Augen abspielt.
Aber wo sind Sie? Vielleicht lassen Sie sich in Ihren Gedanken finden. Der große Philosoph René Descartes sagte einmal: “Ich denke, also bin ich.” Aber ist das wirklich der Lauf der Dinge? Im Lexikon wird das Verbum “denken” definiert als “das Formen von Gedanken, der Gebrauch des Verstandes, um Meinungen zu prüfen und Urteile zu fällen” (Microsoft Encarta 2007). Die Frage ist: Wer bedient sich des Verstandes, um Gedanken zu formen und sie danach in Meinungen und Urteile umzuarbeiten? Existiert derjenige, der die Gedanken erlebt, überhaupt, falls mal keine Gedanken da sind? Zum Glück brauchen wir uns darüber keine Gedanken zu machen. Wir sind uns unseres gegenwärtigen Daseins, unseres Gefühls zu existieren doch sehr bewusst, auch ohne die Hilfe von Gedanken. Wenn wir uns zum Beispiel in tiefe Meditation versenken, verstummen die Gedanken. Und wir wissen, dass sie verstummt sind. Wir “denken” das nicht, wir nehmen die Gedankenleere ganz einfach wahr. Wir kehren zurück und sagen: “Wow, ich habe mich in tiefe Meditation begeben, und zum ersten Mal sind meine Gedanken völlig verstummt. Ich war an einem Ort völligen Friedens, völliger Harmonie und völliger Stille.” Da wir in uns den Frieden erleben, der eintritt, wenn unsere Gedanken verstummen, hängt unsere Existenz offenbar nicht vom Akt des Denkens ab.
Gedanken können verstummen, sie können aber auch extrem lärmig werden. Manchmal hat man weit mehr Gedanken als zu anderen Zeiten. Vielleicht sagt man sogar zu jemandem: “Mein Verstand treibt mich in den Wahnsinn. Seitdem er gewisse Dinge zu mir gesagt hat, kann ich nicht mal mehr schlafen. Mein Verstand will einfach nicht den Mund halten.” Wessen Verstand? Wer nimmt diese Gedanken wahr? Sind das nicht Sie? Hören Sie nicht Ihre Gedanken in sich? Sind Sie sich Ihrer Existenz nicht bewusst? Mal ehrlich, können Sie die denn nicht loswerden? Wenn Sie anfangen, einen Gedanken zu denken, der Ihnen nicht gefällt, können Sie dann nicht versuchen, diesen Gedanken zum Verschwinden zu bringen? Wir Menschen kämpfen die ganze Zeit über mit Gedanken. Wer ist es, der die Gedanken wahrnimmt, und wer ist es, der mit ihnen ringt? Auch hier handelt es sich um eine Subjekt-Objekt-Beziehung zwischen Ihnen und Ihren Gedanken. Sie sind das Subjekt, und die Gedanken sind nur eines von vielen Objekten, die Sie wahrnehmen. Sie sind nicht Ihre Gedanken. Sie nehmen Ihre Gedanken einfach nur wahr. Schließlich sagen Sie:
“Schön, ich gehöre also nicht zur Außenwelt, und ich bin auch nicht die Emotionen. Diese äußeren und inneren Objekte kommen und gehen, und ich erlebe sie. Ich bin aber auch nicht die Gedanken. Die können ruhig oder lärmend sein, fröhlich oder traurig. Gedanken sind nur eine weitere Sache, die ich wahrnehme. Aber wer bin ich?”
Allmählich wird daraus eine ernsthafte Frage: “Wer bin ich? Wer macht all diese physischen, emotionalen und mentalen Erfahrungen?” Also dringen Sie etwas tiefer in diese Frage vor. Dies geschieht, indem Sie die Erfahrungen weglassen und nachsehen, wer übrig bleibt. Sie werden nach und nach merken, wer die Erfahrungen macht. Irgendwann gelangen Sie an einen Punkt in sich, wo Sie erkennen, dass Sie, die Erlebende, eine gewisse Eigenschaft aufweisen. Und diese Eigenschaft ist Wahrnehmung, Bewusstsein, das intuitive Gefühl zu existieren. Sie wissen, dass Sie da drin stecken. Sie brauchen nicht darüber nachzudenken; das wissen Sie einfach. Sie können darüber nachdenken, wenn Sie das wollen, aber Sie wissen dann, dass Sie darüber nachdenken. Sie existieren, unabhängig davon, ob Gedanken da sind oder nicht.
Um dies etwas erfahrbarer zu machen, versuchen wir uns an einem Bewusstseins-Experiment. Beachten Sie, dass Sie mit einem einzigen Blick in einen Raum oder aus einem Fenster alles, was sich vor Ihren Augen abspielt, sofort in sämtlichen Details erfassen können. Sie nehmen mühelos alle Objekte wahr, die sich in Reichweite Ihrer Augen befinden, ob diese nun weit entfernt sind oder nicht. Ohne Ihren Kopf oder Ihre Augen zu bewegen, nehmen Sie all die komplizierten Details dessen wahr, was sich auf einen Blick sehen lässt. Achten Sie auf die vielen Farben, die Abstufungen von Licht, die Maserungen von Holzmöbeln, die Architektur von Gebäuden und die Mannigfaltigkeit von Baumrinden und Blättern. Beachten Sie, dass Sie all dies sofort in sich aufnehmen, ohne darüber nachdenken zu müssen. Gedanken sind dazu nicht nötig; Sie sehen es einfach. Versuchen Sie nun, sich Ihrer Gedanken zu bedienen, um all die komplizierten Details dessen, was Sie sehen, voneinander abzugrenzen, um sie zu benennen und zu beschreiben. Wie lange würde Ihre geistige Stimme dazu benötigen, Ihnen sämtliche dieser Details zu schildern – verglichen mit dem unmittelbaren Schnappschuss eines Bewusstseins, das einfach nur sieht? Wenn Sie bloß schauen, ohne Gedanken zu produzieren, wird Ihr Bewusstsein alles, was es sieht, mühelos wahrnehmen und vollends verstehen.
Bewusstsein ist das höchste Wort, das wir jemals aussprechen werden. Es gibt nichts Höheres oder Tieferes als Bewusstsein. Bewusstsein ist reine Wahrnehmung. Doch was ist Wahrnehmung? Machen wir ein anderes Experiment. Nehmen wir an, Sie befinden sich in einem Zimmer und betrachten eine Gruppe von Leuten und ein Klavier. Stellen Sie sich nun vor, das Klavier höre auf, in Ihrer Welt zu existieren. Hätten Sie damit ein großes Problem? Sie sagen: “Nein, ich glaube nicht. So sehr hänge ich nicht an Klavieren.” Okay, dann stellen Sie sich vor, die Leute in dem Zimmer hörten auf, zu existieren. Alles noch okay mit Ihnen? Kommen Sie damit klar? Sie sagen: “Natürlich, ich bin gern allein.” Nun stellen Sie sich vor, Ihre Wahrnehmung würde nicht existieren. Einfach abschalten. Wie geht es Ihnen jetzt?
Wie wäre es, wenn Ihre Wahrnehmung nicht existierte? Sehr einfach: Sie wären gar nicht da. Es wäre kein “Ich”-Gefühl vorhanden. Es wäre niemand da drin, der sagen würde: “Wow, ich war sonst immer hier drin, aber jetzt bin ich es nicht.” Es würde keine Wahrnehmung von Dasein mehr geben. Gäbe es da noch Objekte? Wer weiß. Wenn niemand da ist, der Objekte wahrnimmt, wird deren Existenz oder Nicht-Existenz völlig bedeutungslos. Es spielt keine Rolle, wie viele Dinge sich vor Ihren Augen befinden; wenn Sie das Bewusstsein abstellen, ist da nichts. Im Zustand des Bewusstseins hingegen kann zwar ebenfalls nichts vor Ihren Augen sein, Sie nehmen aber in vollem Umfang wahr, dass da nichts ist. Es ist wirklich nicht so kompliziert, und es ist sehr erhellend.
Wenn ich Sie nun also frage “Wer sind Sie?”, so antworten Sie:
“Ich bin diejenige, die sieht. Irgendwie von hier hinten gucke ich hinaus, und ich nehme die Geschehnisse, Gedanken und Emotionen, die sich vor meinen Augen abspielen, wahr.”
Wenn Sie sich sehr in die Tiefe begeben, gelangen Sie dorthin, wo Sie wohnen. Sie wohnen dort, wo das Bewusstsein sitzt. Ein wahrhaft spirituelles Wesen wohnt dort, eines ohne Bemühen und ohne Absicht. Genauso wie Sie mühelos hinausblicken und alles sehen, was Sie sehen, werden Sie irgendwann wieder dort drin sitzen, weit genug entfernt, um auch all Ihre Gedanken und Emotionen als äußere Formen zu erkennen. Alle diese Objekte befinden sich vor Ihren Augen. Die Gedanken sind näher, die Emotionen etwas weiter entfernt im Inneren, und die Formen sind weiter draußen. Hinter all dem befinden Sie sich. Sie gehen so in die Tiefe, dass Ihnen klar wird, dass dies der Ort ist, an dem Sie immer schon waren. In jedem Abschnitt Ihres Lebens haben Sie verschiedene Gedanken, Emotionen und Objekte an sich vorbeiziehen sehen. Doch Sie waren stets der bewusste Empfänger von allem, was war.
Nun befinden Sie sich in Ihrem Bewusstseinszentrum. Sie befinden sich hinter allem und beobachten nur. Das ist Ihr wahres Zuhause. Nehmen Sie alles andere weg, und Sie sind immer noch da und nehmen wahr, dass alles weg ist. Entfernen Sie jedoch das Wahrnehmungszentrum, so ist da nichts mehr. Dieses Zentrum ist der Sitz des Selbst. Von diesem Sitz aus nehmen Sie wahr, dass da Gedanken sind, Emotionen, und eine Welt, die Sie über Ihre Sinne in sich aufnehmen. Doch nun nehmen Sie wahr, dass Sie wahrnehmen. Dies ist der Sitz des buddhistischen Selbst2, des hinduistischen Atman3 und der jüdisch-christlichen Seele. Sowie Sie diesen Ort tief in sich einnehmen, setzt das große Mysterium ein.

Michael A. Singer

Die unbändige Seele (Gebundene Ausgabe)
von Michael A. Singer
Gebundene Ausgabe: 253 Seiten € 19,50 Portofrei





Als ich das Buch vor ein paar Jahren entdeckte, war nur eine englische (The Untethered Soul: The Journey Beyond Yourself) Ausgabe zu erhalten. Endlich gibt es dieses unglaubliche Buch auch auf deutsch bei Edition Spuren. Mit seiner klaren und zielgerichteten Sprache bringt Michael A. Singer die wesentlichen Dinge in prägnanter Sprache auf den Punkt. Ein Lesevergnügen der besonderen Art. Kapitel für Kapitel führt der Autor durch alle Facetten der Persönlichkeit und erschließt mit klaren Worten, die wesentlichen Potentiale der persönlichen Entwicklung im Sein und der Verwirklichung des Selbst. Ein tolles, ein lebendiges und wertvolles Buch! Unbedingt lesenswert!

Roland Gehweiler

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