Schuld lass nach

Kaum ein Tag vergeht ohne Schreckensmeldungen zum Euro. Wo viel Schulden sind, ist auch die Schuldfrage nicht weit. Was es jetzt braucht, sind Nachlass und Versöhnung.
Von Martin Frischknecht 

«Wer soll das bezahlen, wer hat das bestellt? Wer hat so viel Pinke, Pinke, wer hat so viel Geld?» Jahr für Jahr liegt man sich in den Armen und singt dieses Lied. Es ist Karneval in Deutschland, viel Alkohol ist die Kehle runtergeflossen. Der Abend neigt sich dem Ende zu, das Fest ist aus. Nun heisst es auseinandergehen, und, ja, einer, einer mindestens wird die Zeche bezahlen müssen. Bevor es so weit ist, erheben sich die Gäste, sie hängen sich links und rechts bei ihren Nachbarn ein, dann singen sie fröhlich und ausgelassen von den Schulden, die beglichen werden sollen.

Das ist die sprichwörtliche deutsche Gemütlichkeit. Wenn in der kalten Jahreszeit die Vorräte knapp werden und die Kälte nicht weichen will, wird zusammengekratzt, was man noch hat, und es wird ein rauschendes Fest gefeiert. Einige Tage liegen Hinz und Kunz sich in den Armen. In der Nacht auf Aschermittwoch geht das Karnevalstreiben zu Ende. Nach dem Kehraus wird die Tristesse der langen Fastenzeit mit derselben Gelassenheit hingenommen, wie zuvor die Festfreude mitriss und begeisterte. All das geht vorbei, und es kehrt wieder. Im Tanz des Lebens.

Kein Feierabendbier mehr
Mit der deutschen Gemütlichkeit ist es vorbei, seit die Zeche des Euro auf dem Tisch liegt. Die Frage, wer das bezahlen soll, wird mit Leidenschaft und Bitterkeit debattiert. Dabei geht es längst nicht mehr bloss um die schwindelerregenden Zahlen und den drohenden Bankrott, sondern um moralische Verfehlungen, und die werden ganzen Völkern pauschal angelastet. Allen vor­an den Griechen. Die sollen seit über einem Jahrzehnt systematisch ihre Staatsrechnung gefälscht und sorglos geprasst haben. Nun, da das Malaise zutage tritt, folgen Streiks und Jammern.

«Dass viel schiefgelaufen ist auf vielen Seiten, weiss man ja mittlerweile», schreibt Julia Amalia Heyer im Nachrichtenmagazin Der Spiegel. Und sie gibt zu bedenken: «Allerdings wurden griechische Familien sicher nicht zum Kauf von überteuerten Eigenheimen oder Porsche Cayennes gezwungen. Manchmal wünscht man sich schlicht ein bisschen mehr Einsicht, ein bisschen mehr Selbsterkenntnis.» Die Journalistin lebt in Athen. Schweren Herzens verzichtet sie mittlerweile darauf, abends mit griechischen Freunden ein Feierabendbier trinken zu gehen, denn sie ist es leid, sich als Deutsche stets die gleichen Schuldzuweisungen anhören zu müssen.

Die Griechen fühlen sich ungerecht behandelt. Die EU hätte den – zugegeben – korrupten und gierigen griechischen Politikern eben nicht so hohe Kredite zu Schleuderpreisen andrehen dürfen, welche das Land auf hinterhältige Weise in die Abhängigkeit getrieben hätten. Erst jetzt, wo es viel zu spät sei, werde von den Geberländern empört die Rechnung präsentiert, und das griechische Volk habe für den Schaden aufzukommen. Das rieche nach einem geheimen Plan und nach Absicht: «Der böse Teil der Welt, das finstere Kapital hat sich verschworen, um sich Hellas, die Wiege der abendländischen Kultur, unter den Nagel zu reissen.»

Mehr als ein Sprachproblem
Das Problem sind die Schulden. Oder die Spekulanten. Oder die Zinsen. Die Ratingagenturen. Der Schlendrian der Südländer. Die imperialistischen Pläne der Nordländer. Die systematische Schummelei der griechischen Staatsfinanzen. Die Blauäugigkeit der Euro-Buchhalter. Die Prinzipienreiterei der Deutschen. Die andauernden Schuldzuweisungen. Die endlosen Diskussionen.

Ich bin vor Kurzem auf einen neuen Hinweis gestossen. Er weist in die Tiefe und deutet auf einen Zusammenhang, der in der Hitze der Debatte vergessen geht: Die deutsche Sprache unterscheidet kaum zwischen Schulden und Schuld, der eine Begriff ist mit dem anderen untrennbar verbunden. Franzosen unterscheiden zwischen «dettes» und «faute», Engländer zwischen «debt» und «guilt». Mit anderen Worten: Ein Schuldner trägt keine Schuld. Er oder sie hat sich nichts zuschulden kommen lassen, sondern hat sich nur von einem Gläubiger Geld geliehen. Dafür wird in aller Regel Zins bezahlt, und es besteht die Bereitschaft, den ausgeliehenen Betrag dereinst zurückzuzahlen. Dieses Kreditgeschäft geschieht zum Vorteil beider Seiten. Von «Fehl» (faute) oder «schambesetzter Verfehlung» (guilt) keine Spur.

Mehr noch: Die Praxis des Leihens und Borgens ist derart selbstverständlich, dass sie den Kern unseres Geldes bildet. Es gibt kein Guthaben auf der Bank, ohne dass es Schulden des Geldinstituts gegenüber seinem Kunden gäbe. Und es gibt kein Geld, keine Münzen, keine Noten, keine Währung, ohne dass es Schulden gegenüber dem Besitzer solcher Zertifikate gäbe. Für die Banknoten und Münzen in unserem Portemonnaie steht der Staat, respektive die gesamte Volkswirtschaft gerade. Ohne diese für uns selbstverständliche Gewährleistung, ohne diese Schulden, fehlten uns die nötigen Mittel für den Zahlungsverkehr und es gäbe keinen Austausch wirtschaftlicher Leistungen. Schulden und Guthaben sind die zwei Seiten der einen Münze.

Kein Geld ohne Schulden
Nüchtern betrachtet, sind Schulden demnach eine Grundlage unseres Wirtschaftens. Nehmen wir als Beispiel die oben beklagten Porsche Cayenne, welche griechische Familien im Konsumrausch erworben haben sollen. Diese Luxuskarossen werden neben jenen der Marken BMW und Mercedes in Deutschland gebaut. Deutsche Autos sind ein Exportschlager, die guten Verkaufszahlen der Autobauer zählen zu den Gründen, warum die deutsche Volkswirtschaft noch heute gut dasteht. Die Wagen wurden in Griechenland gekauft mit Geld, das man sich aus dem Norden ausgeliehen hatte und wofür man Zinsen zahlte. Eigentlich ein ertragreiches Geschäft für alle Beteiligten – bis nicht einer auf den Tisch klopft und die Grundlage des Handels in Frage stellt. Mit einem Mal verbreitet sich Unsicherheit, ob die Schulden denn je würden zurückbezahlt werden können, und es kommt zu Schuldzuweisungen.

Wer ist schuld an den hohen Schulden? Wer muss dafür den Kopf hinhalten? Irgendwie alle, und es ist keinesfalls so, dass in dem Spiel der Gläubiger besser dastehen würde als der Schuldner. Die beiden sind auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen. Geht dem Schuldner der Schnauf aus, droht dem Gläubiger, dass er all sein Geld verliert. Also wird in der Regel beschlossen, neues Geld nachzuschiessen, verbunden mit strengen Auflagen, um dem alten Schlendrian einen Riegel zu schieben und die Aussicht zu verbessern, dass der Schuldner wieder auf die Beine kommt.

Diese strengen Regeln wiederum wecken im Empfängerland den Widerstand der Bevölkerung, die als erste und am nachdrücklichsten unter dem Diktat der Sparmassnahmen leidet. Dass das Volk bluten soll für die Verfehlungen einer korrupten Politikerkaste, die ihr Vermögen längst ins Ausland transferierte, wird als ungerecht empfunden. Verschwörungstheorien machen die Runde, und rasch sind Schuldige an der Misere gefunden. Wieder verschmischen sich die Begriffe von Schulden und Schuld, diesmal mit umgekehrten Vorzeichen. Die vermeintlich faulen und verschlagenen Griechen beklagen sich über den Wirtschaftsimperialismus der Deutschen, Bundeskanzlerin Angela Merkel wird in Karikaturen dargestellt als Nazi auf dem Weg in ein «Viertes Reich».

Deutsche Schuld
Das tut weh, und es erinnert an eine Schuld der anderen Art. Seit 1945 lastet auf dem deutschen Volk die Schuld, die beiden verheerendsten Kriege der Menschheit vom Zaun gebrochen zu haben. Die ganze Welt, einschliesslich des Volks der Täter, ist sich einig: Die Deutschen waren damals die Schurken, Deutschland brachte unter der Führung Adolf Hitlers unsägliches Leid über ganz Europa. Griechenland war während nahezu vier Jahren von faschistischen Truppen besetzt. Das Land wurde von den Besatzern rigoros ausgebeutet, und es stürzte nach dem Abzug der Wehrmacht in einen Bürgerkrieg zwischen royalistischen und kommunistischen Elementen.

Der von vielen geschmähte, heimlich aber gelesene und für seinen Eigensinn wohl auch bewunderte Thilo Sarrazin hat den Finger auf den wunden Punkt gelegt. Er hat den Zusammenhang zwischen deutscher Schuld und europäischer Schuldenwirtschaft benannt. In seinem Buch «Deutschland braucht den Euro nicht» (DVA, München 2012) benennt der ehemalige Nationalbanker «jenen sehr deutschen Reflex, wonach die Busse für Holocaust und Weltkrieg erst endgültig getan ist, wenn wir all unsere Belange, auch unser Geld, in europäische Hände gelegt haben».

Dass diese Rechnung nicht aufgeht, weil sich das eine gegen das andere nie wird aufrechnen lassen, liegt auf der Hand. Dennoch wird der Versuch mit zunehmender Verbissenheit unternommen – und führt dazu, dass Europas Völker sich wechselweise Schuld und Schulden vorhalten, ohne je aus dem moralisch finanziellen Schlamassel, in dem sie stecken, herauszufinden. Von der Rolle der Schweiz, die munter Steuerflüchtlinge aufnimmt und zugleich in rauen Mengen Euros aufkauft, um sich über Wasser zu halten, wollen wir an dieser Stelle nicht reden.

Das Jubiläum
Kehren wir lieber zurück zum Karneval. Die Feier des Verkleidens, die Tage der ausgelassenen Völlerei und die Wochen des Fastens entsprechen einem zyklischen Verständnis von Zeit, und sie verbinden den natürlich gegebenen Ablauf der Jahreszeiten mit religiös aufgeladenen Vorstellungen von Schuld und Sühne. Ein ähnlicher Brauch mit vergleichbaren Komponenten ist leider bei uns etwas in Vergessenheit geraten. Es ist die Feier eines Jubiläums. Der Begriff stammt aus dem Judentum und findet Erwähnung im Alten Testament. Jedes siebte Jahr gilt als Sabbatjahr, nach sieben mal sieben Jahren kommt es zu einem Jahr des heiligen Jubiläums. Dabei herrscht grosser Jubel, erklärt das 3. Buch Mose, denn jeder bekommt zurück, was er ursprünglich besessen hat, und Sklaven erlangen ihre Freiheit, wodurch sie zu ihren Familien heimkehren können.

Das jüdische Volk hat sich nicht allzu lange an diesen Brauch gehalten. Als Feier eines heiligen Jubiläums hat er jedoch Eingang gefunden in die Gebräuche der katholischen Christenheit. Seit 1300 erklären die Päpste je nach Bedarf immer mal wieder ein Jubiläumsjahr, zuletzt geschah das 1983 und 2000 durch Papst Johannes Paul II. Gläubige, die in einem solchen Jahr Busse tun und sich zu einer Pilgerreise entschliessen, kommen in den Genuss einer Generalamnestie für die Seele: Sämtliche Sünden, die sie sich haben zuschulden kommen lassen, werden ihnen erlassen, und sie beginnen mit einem unbeschriebenen Register wie neugeboren bei null.

Ich glaube, Sie wissen, warum ich Ihnen das erzähle. Sie wissen, dass ich nicht an die katholische Buchhaltung der Sünden glaube. Auch mit der Vorstellung, dass da eine allmächtige und strafende Instanz über uns wache, die uns fortwährend straucheln lässt, gelegentlich aber auch wieder vergibt, habe ich meine liebe Mühe. Doch wie wär’s, wenn wir die Sache selber in die Hand nähmen? Ein Jubiläum, von dem alle nur profitieren könnten, ein Federstrich, mit dem Schuld wie Schulden getilgt, vergeben und erlöst würden. Ein Jubel der Erleichterung ginge um die Welt. Die Sklaven des Geldes würden in die Freiheit entlassen, sie kehrten heim zu dem Besitz, der ihnen immer schon gehörte, aber irgendwie in Vergessenheit geraten ist: zu sich selbst.

Literatur: Peter Koenig: Dreissig dreiste Lügen über Geld. Oesch Verlag, Zürich 2007.

Dieser Artikel erschien zuerst in Spuren WebSite: www.spuren.ch

 

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