Annette Kaiser – Liebe zum Einen

107_Salon_KaiserSie ging weite Wege, bevor sie zur Sufi-Lehrerin Irina Tweedie und zu sich selber fand. Heute lehrt Annette Kaiser einen Weg jenseits der Wege – den der Liebe. Von Martin Frischknecht

SPUREN: Sehnsucht scheint in deinem Leben eine konstante Begleiterin zu sein. Im Alter von 14 Jahren hat dich die Sehnsucht nach Paris in ein Nonnenkloster geführt. Danach ging es in deinem Leben dieser Spur nach weiter. Ist dir die Sehnsucht heute noch vertraut?

Annette Kaiser: Diese Sehnsucht war anfangs noch sehr unbewusst. Ich kam damals ins Kloster, um dort Französisch zu lernen. Das war der Grund, der es mir erlaubte, so jung von zu Hause wegzugehen. Im Kloster ist die Sehnsucht dann in mir erwacht. Es ging darum, das Verhältnis zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen besser zu verstehen, mich dem Göttlichen anzunähern und mit ihm eins zu werden.
Das war die ursprüngliche Sehnsucht in mir, ich wollte erfüllt werden von dem Einen und ins Einssein gelangen. Diese Sehnsucht hat sich in mir als Individuum erfüllt. Sie ist in jedem Augenblick neu erfüllt. Heute bewegt mich eine ähnliche Sehnsucht. Nun ist damit die Menschheit und die gesamte Welt gemeint. Es ist der Wunsch, dass wir alle über längere Zeit in dieses Einssein und Erwachen hineinkommen, wodurch uns eine ganz andere Dimension der kosmischen Intelligenz zugänglich wird, die den Verstand, den Intellekt und die Vernunft umfasst und transzendiert. Diese Dimension wird es uns ermöglichen, auf der Erde in den Frieden zu kommen und Lösungen zu finden für die Probleme, die heute anstehen. Ein inneres Bild zeigt mir, wie das aussehen könnte, und mit diesem Bild verbinde ich tatsächlich eine Sehnsucht.

Blicken wir nochmals zurück: Was würdest du zu dem Mädchen sagen, das du damals warst?
Ich würde sie in ihrer Sehnsucht bestärken und ihr erklären, wie es dazu kommt. Diese Sehnsucht basiert auf einem inneren Wissen, dass wir tatsächlich göttliche Wesen sind, die eine menschliche Erfahrung machen, und nicht umgekehrt, wie wir uns das immer vorstellen. Wir verstehen uns ja als getrennte Wesen von diesem Einen. Diese Sehnsucht ist die weibliche Seite der Liebe. Nach meinem Verständnis ist die Schöpfung aus einem Akt der Liebe entstanden. Wir befinden uns in einer Liebesbeziehung; die Liebe entspricht unserer Natur, nicht die Angst, die aus dem Gefühl der Trennung resultiert. Um das einer 14-Jährigen zu erklären, müsste ich dem anderen allerdings begegnen, damit ich auf genau diesen Menschen mit den richtigen Worten eingehen könnte.

Das heisst, die Sehnsucht ist die richtige Spur. Sie führt weiter und zu einem Ziel.
Sie ist uns ein guter Leitfaden. Selbstverständlich haben wir Menschen unglaublich viele Sehnsüchte in der Welt. Von der Filmindustrie und der Werbung werden diese Gefühle geschickt aufgegriffen. Wir haben vor uns das Bild eines schönen Strandes, und schon fährt etwas aus uns und hat Sehnsucht nach dieser Weite, nach der Sonne, dem Spiel des Lichts auf den Wellen. Oder wir sehnen uns nach einem schnellen Auto, einem Super-Velo, nach einer Partnerschaft, Kindern … Wenn wir diese Sehnsüchte genauer betrachten und zurückführen zu ihrem Ursprung, so kommen wir zu einem Verlangen nach Ganzwerden. Wir sehnen uns -danach, das menschliche Potenzial bewusst ganz zu erfahren und zu integrieren. Das ist der Kern, und diesen Kern leben wir häufig kompensatorisch auf anderen Ebenen aus.

Dann werden wir aus uns heraus-geführt statt nach innen.
Genau. Weil nicht erkannt wird, wo der Ursprung liegt. Das zeigt sich deutlich in der Partnerschaft. Als junge Frau glaubte ich, mit dem Du würde ich ganz werden. Ein Stück weit geschieht das auch tatsächlich, doch letztlich erblüht eine Partnerschaft daraus, dass beide erwachsen sind und das Gegenüberliegende in sich integriert haben.

Auch spirituelle Sucher sind oft unterwegs, indem sie verschiedene Angebote und Lehrer abklappern. Du warst selber lange in dieser Szene unterwegs und scheinst dich mit dieser Suchbewegung gut auszukennen.
Ich würde von mir nicht sagen, dass ich auf meinem Weg die Angebote abgeklappert hätte. Ich war nicht aktiv am Suchen und ging eher intuitiv vor. Es begann damit, dass ich im tibetischen Kloster von Rikon Vorträge hörte, wodurch ich aufmerksam wurde auf ein mir bis dahin unbekanntes Wissen zum Menschsein. Ich erfuhr von Geistesgiften, die in Weisheitsaspekte gewandelt wurden. Damals litt ich unter anderem an Eifersucht, die ich einfach nicht wegbrachte.
Therapien interessierten mich weniger, mein Vertrauen war grösser in die spirituelle Dimension. So folgte ich einer Empfehlung und besuchte die Vorträge von Geshe Rapten in Rikon. Auch der Kontakt zu Frau Tweedie kam eher intuitiv zustande. Mir fiel in einer Buchhandlung ihr Werk Wie Phönix aus der Asche in die Hand. Dieses Buch hat mich sehr angesprochen, weil ich darin einen Weg beschrieben fand, der radikal war und doch mitten im Leben stand. Das heisst, ich suchte nicht, sondern war offen und liess mich führen.

Und bei Irina Tweedie war es für dich klar: Da lasse ich mich ein. Zuvor aber gab es etliche Stationen, wo du bald wusstest: Da ziehe ich weiter.
So sehe ich das nicht. Alles, was ich zuvor erfuhr, hat dazu beigetragen und mich auf diese Begegnung hin vorbereitet. Beim tibetischen Buddhismus habe ich ja nicht bloss zugehört. Ich verpflichtete mich dort zu einer intensiven Gebetspraxis mit 250000 Niederwerfungen – und kurz zuvor hatte ich ein Kind geboren. Das hat meinen Körper gestärkt und mich psychisch stabilisiert. Danach wusste ich aber nicht weiter. Jenen Weg weiterzugehen, Tibetisch zu lernen und Visualisierungen zu machen, deren Inhalt mir letztlich fremd war, kam für mich schliesslich nicht in Frage.

Der Weg der Sufi ist für uns ja auch nicht gerade das Naheliegende.
Allerdings. Aber ich wusste am Anfang gar nicht, dass Frau Tweedie eine Sufi-Lehrerin war. Zunächst war mir das völlig gleich. Ich sah bei ihr einfach, dass sie das lebte, von dem sie sprach. Sie hat diese Liebe verkörpert, ob das nun Hinduismus oder sonst etwas war, spielte für mich keine Rolle. Dieses Authentische, Integere und Radikale, das war es, was mich überzeugte. Sie war über achtzig Jahre alt, lebte in London und hatte täglich rund hundert Leute bei sich, und so ging es bis an ihr Lebensende. Wie sie sich rückhaltlos in den Dienst stellte, diese Stille und ihr Leuchten, das hat mich zutiefst berührt. Und sie war offen für die Welt, da gab es keinerlei Ablehnung. Bei der Feier ihres neunzigsten Geburtstags haben wir mit ihr ein Gläschen Wein getrunken. Alles hatte Platz bei ihr, die verrücktesten Dinge durften sein, bei ihr gab es keine Tabus. Das hat mich inspiriert.

Das heisst, du brauchtest dich nicht mit einer bestimmten Lehre oder Tradition zu identifizieren, und dies obwohl du später ja von ihr zur Lehrerin bestimmt worden bist.
Ein religiöses Bekenntnis brauchte es nicht. Was Frau Tweedie uns lehrte, ist so alt wie die Menschheit selbst: es ist die Liebe selbst. Mich hat immer nur das interessiert. Ich bin viel und weit gereist, ich habe in allen Kulturen und Religionen hoch spirituelle Menschen kennengelernt. Mir geht es um  ein Holon, in dem sich alle Wege in ihrer Einzigartigkeit respektieren. Und dort, wo sich die verschiedenen Wege finden, können sie sich gegenseitig in der Stille und in der Liebe inspirieren. Sie sind untrennbar eins zugleich.

Stichwort Liebe: Die Villa Unspunnen, die du leitest, ist eine Gemeinschaft von lauter Frauen. Taugen die Männer dazu denn nicht?
Das ist überhaupt nicht meine Meinung. Doch in den meisten spirituellen Bewegungen – vielleicht mit Ausnahme des Zen – sind es heute Frauen, die sich am stärksten beteiligen. Einem spirituellen Lehrer fällt es leichter, weibliche Schüler um sich zu scharen, als dass eine spirituelle Lehrerin männliche Schüler anziehen würde. Das hat mit unseren Konditionierungen zu tun, und die Frauen sind in unserer Gesellschaft heute diesen Themen gegenüber immer noch einfach offener.
Ich habe Männer gerne, und mir sind die Verhältnisse zu einseitig. Aber es gibt jetzt in der Villa einen ersten Mann, der im Büro arbeitet. Wir müssen immer, wie es der Zen-Meister Bernard Glassman so schön sagte, mit den Zutaten arbeiten, die uns das Leben zur Verfügung stellt. Die Verhältnisse sind nicht immer ideal, und sie entsprechen oft nicht unseren Vorstellungen. Doch alles, was  ist, trägt dazu bei, dass wir weiter wachsen und  lernen, was  zu lernen ist.

«Liebe» ist für Männer als Angebot wohl auch nicht gerade der grosse Heuler …
Dann wird vielleicht nicht verstanden, was damit gemeint ist. Gewiss besteht dem Angebot Liebe gegenüber eine Scheu – aber verständlich ist das nicht. Vielmehr ist es ein Widerspruch, gibt es doch nichts, wonach sich der Mensch stärker sehnt. Wir alle möchten geliebt sein, wir möchten gesehen, respektiert und angenommen sein. Jeder Mensch kreist um die Erfüllung dieses Bedürfnisses. Wir möchten weg von der Angst als Grundlage des Lebens hin zur Liebe.
Mir scheint, dass sich dieser Bewusstseinswandel anbahnt.Es ist bloss eine Frage der Zeit, bis sich diese Einsicht in die untrennbare Einheit allen Seins und Werdens auf der Basis der Liebe durchsetzt. Wenn man liebt, so kreiert das ein bestimmtes Feld, das weit über sich selbst hinaus wirkt. Es kommt auch Stille dazu, und es entsteht ein Grundvertrauen, dass alles sich zur rechten Zeit manifestiert, am rechten Ort, mit den richtigen Menschen  – in dynamischer Präsenz in Aktion. Von uns ist zwar ein Beitrag gefordert, doch es bedarf von unserer Seite her keiner Überzeugungsarbeit.

In den 17 Jahren der Beziehung von dir zu Frau Tweedie gab es ja nicht immer nur eitel Sonnenschein. In einer entscheidenden Zeit sahst du dich von ihr mit einer Anschuldigung konfrontiert, die dich auf dich selber zurückwarf und dich wie im eigenen Saft schmoren liess.
Ich glaube, so etwas muss man in einem grösseren Kontext sehen. Ein Lehrer hat die Funktion, beim Schüler einen Wandlungsprozess auszulösen und ihm ein Spiegel zu sein. Offensichtlich war ich ein Mensch, der bereit war, alles auf eine Karte zu setzen.
Was damals geschah, war zwar heftig, doch zugleich war es für mich als Individuum sehr wertvoll. Ich habe dadurch erfahren, dass ich die Kraft habe, zu mir zu stehen. Ich wusste, dass der Vorwurf mir gegenüber haltlos war. Das hat mich aber nicht daran gehindert, weiter zu ihr zu fahren. Ich hielt mich in der Küche und im Gang auf, in ihr Zimmer konnte ich nicht eintreten. Nach einem Jahr wurde ich insofern erlöst, als sie mir gegenüber bestätigte, mich auf die Probe gestellt zu haben. Dabei habe ich auch erfahren, wie Kollektive funktionieren, wie es so weit kommt, dass eigentlich wohlmeinende Menschen sich auf eine bestimmte Linie einschwören und andere dadurch ausgrenzen. Diese Erfahrung hat mich gelehrt, mit meiner inneren Wahrheit zu gehen, egal ob ich damit auf Lob oder auf Ablehnung stosse.

Woher kommt diese Bereitschaft, von der du sprichst, eine innere Entschlossenheit oder Hingabe, die dich dranbleiben liess, auch wenn es schwer wurde?
Generell weiss ich das nicht. Für mich persönlich kann ich sagen, dass es in meinem Leben diese fordernde Dringlichkeit gab, die mich dazu führte dranzubleiben. Ich glaube, dass diese Qualität grundsätzlich in jedem Menschen vorhanden ist, und ich fühle mich überhaupt nicht als besonders. Mich interessierte stets ein Weg, der allen offensteht. Ich bin Mutter, ich musste mein Leben verdienen, und mittendrin ging ich dem nach, was mir das Wichtigste war.
Ich finde, wir alle sind berufen. Es gibt verschiedene Wege und Möglichkeiten, mein persönlicher Weg ist ein Sandkorn neben Billionen anderer. Für jemand anderer funktioniert etwas ganz anderes, und sie oder er braucht auch nicht diese Tunnelerfahrung, um durchzubrechen, wie ich das musste.

Fahndest du denn nicht heute in den Menschen, die zu dir kommen, nach dieser Entschlossenheit und Dringlichkeit?
Ich fahnde nicht, ich bin. So etwas in anderen zu suchen oder von ihnen zu wollen, das funktioniert nicht. Mir geht es um etwas weitaus Subtileres. Wie es im Zen heisst: Indem ich still dasitze und nichts tue, wird es Frühling und das Gras spriesst auf. Der Mensch hat alles in sich. Es ist alles da. Vielleicht kann ich ein wenig dazu inspirieren, dass der Mensch sich wahrnimmt als das, was er in tiefster Essenz ist.
Auf einer tieferen Ebene sind wir untrennbar eins. Es ist einfach so. Wachstum geschieht noch ganz anders, als wir es aus der Schule und von unseren Bildungskonzepten her kennen. Was wissen wir schon über die Wirklichkeit? Hinter einem einzigen Augenaufschlag stehen Trillionen von chemischen Abläufen in unserem Körper – also bitte schön.

Das deutet auf ein Jenseits der Kausalität. Es gilt dann nicht mehr: Annette Kaiser macht im Alter von X die Erfahrung Y, und darum vertritt sie heute Z und tut dieses oder jenes.
Absolut. Diese Dinge werden transparent. Und das betrifft alle Menschen. Wir alle haben in der einen Wirklichkeit irgendwann die Frage, was Wirklichkeit, was das Leben an sich ist. Ganz genau genommen, wissen wir noch nicht, was durch uns wirkt. Und das ist doch wunderbar!

Kontakt: www.villaunspunnen.ch

Dieser Artikel erschien zuerst in Spuren WebSite: www.spuren.ch

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