Ins Gesicht geschrieben

Gesichter

Kein anderer Körperteil zeigt mehr, wer wir sind und was in uns vorgeht, als das menschliche Gesicht. Das gilt für Babys, für Pokerrunden wie für den Dalai Lama.

Von Martin Frischknecht

Wenn wir geboren werden, wenn wir, wie man sagt, das Licht der Welt erblicken, was sehen wir da? Sehen ist beileibe nicht der erste Sinn unseres Lebens. Bereits im Mutterleib hört der Mensch, darauf schmeckt, riecht und tastet er, der Sehsinn bildet sich nur allmählich aus und gewinnt für die Wahrnehmung des Neugeborenen im Verlaufe der ersten Monate an Bedeutung. Zunächst unterscheiden wir durch unsere Augen bloss hell und dunkel, mit der Zeit bekommt die Welt um uns Tiefe und Kontur. Das entscheidende Bild, das uns immer wieder erscheint, mal ganz nah, dann wieder auf Distanz, ist ein Gesicht. Es ist das Gesicht der Mutter. Bald können wir aus allen Gesichtern, die uns vor Augen kommen, das Gesicht der Mutter erkennen. Ihre Nase, ihre Augen, ihre Stirn und ihr Mund lehren uns lesen. Wir lesen Gefühle.
Rund dreißig Muskeln bewegen das Gesicht des Menschen, etwa ein Drittel dient dem mimischen Ausdruck, das heisst, mit diesen Bewegern teilen wir anderen bewusst oder unbewusst mit, wie wir drauf sind und was in uns vorgeht. Den Zusammenhang zwischen Mimik und Emotion haben wir von der Wiege auf erlernt, und zwar rasch und gründlich. Seitdem sind die Bahnen zwischen mimischem Ausdruck, Wahrnehmung und Gefühl in unserem Hirn derart eingespielt, dass die Signale, die auf ihnen transportiert werden, kaum noch ins Bewusstsein dringen. Die Reize werden automatisch verarbeitet und bestimmen doch ganz wesentlich, wie wir uns anderen gegenüber verhalten. Es ist der legendäre erste Eindruck, und zwar der allererste und meist auch der entscheidende, den wir beim ersten Anblick eines Gesichts gewinnen. Dieser Eindruck, verbunden mit einem Gesicht, wird zu einem Bauchgefühl, das uns für andere einnimmt oder gegen sie stimmt.


Foto Fa.bianDer erste Eindruck bildet die Tiefenschicht. Dauert die Begegnung zweier Gesichter länger, kommen neue Eindrücke hinzu. Über die sogenannten Spiegelneurone nehmen wir die Stimmung eines Gegenübers nicht bloss wahr, sondern empfinden diese Gefühle auch gleich selber, wodurch sich innert Sekundenbruchteilen eine Feedbackschlaufe ergibt, auf der wir uns wechselweise aufeinander einschwingen.
John Cleese reiste für eine BBC-Dokumentation über das menschliche Gesicht nach Mumbai, Indien. Dort gesellte sich der englische Komiker unter Anleitung von Dr. Madan Kataria zu einer Gruppe, die jeden Morgen unter freiem Himmel Lachyoga praktiziert. Wirklich lustig fand der englische Komiker die forciert aufgeräumte Stimmung eigentlich nicht. Doch, so merkte er bald, darum geht es gar nicht. Der menschliche Organismus unterscheidet nicht zwischen einem künstlich «gemachten» Lachen und echtem, spontanem Lachen. Die erwünschten und durch Studien belegten positiven Gesundheitseffekte stellen sich so oder so ein. Und, so erkannte Cleese, wer von lauter lachenden Gesichtern umgeben ist, kann gar nicht anders, als mitzulachen. Die Stimmung der anderen reisst einen mit, man lacht selber, dadurch wiederum verstärkt sich das Lachen der anderen und so weiter. «Fake it, fake it, until you make it (Täusch es vor, täusch es vor, bis es dir gelingt)», rät Madan Kataria dem Monty-Python-Komiker, worauf die beiden herzhaft lachen.

DER UNIVERSALE AUSDRUCK
Unter Anthropologen galt lange Zeit als gesichert, dass die Signale, welche wir mit unserem Gesicht aussenden, in der Kindheit und Jugend durch das Kopieren anderer Menschen erlernt werden, und dass die Grammatik, derer wir uns dabei bedienen, je nach Kultur und Geschlecht verschieden ist. Diese Annahme entsprach Beobachtungen von Forschern bei fremden Völkern: Ganz offensichtlich bedeutet es nicht dasselbe, wenn eine Burmesin die Augen niederschlägt, wie wenn ein Buschmann der Kalahari dasselbe tut. Eine Untersuchung mit Testpersonen aus Japan und aus den USA ergab beispielsweise den sprechenden Unterschied, dass Erstere häufig mit einem verlegenen Lächeln reagierten, wenn ihnen in Gegenwart einer Autoritätsperson ekelerregende Bilder gezeigt wurden, während die Amerikaner recht ungeniert ihren Ekel ausdrückten, wenn sie Ekel empfanden.
Doch wenn Ekel sich ungehindert auf einem Gesicht zeigt, sieht das rund um die Erde gleich aus: Die Oberlippe wird hochgezogen, die Unterlippe geht mit und schiebt sich ein wenig nach vorn. Dadurch bilden sich zwischen Nasenflügeln und Mundwinkeln zwei markante Falten. Auch die Nase zieht nach oben, wodurch sich auf dem Nasenrücken Querfalten bilden. Paul Ekman hat den Gesichtsausdruck für Ekel neben dem für Fröhlichkeit, Wut, Furcht, Verachtung, Traurigkeit und Überraschung in verschiedenen Gegenden der Welt untersucht. Dabei konnte er feststellen, dass alle Menschen, ungeachtet ihrer Herkunft oder ihres Geschlechts diese Zeichen intuitiv richtig lesen. Um jede kulturelle Beeinflussung auszuschliessen, reiste Ekman zu einem sogenannten Steinzeitvolk in Papua-Neuguinea und legte den Eingeborenen Gesichter von Weissen vor. Auch dort zeigte sich, was mittlerweile als gesicherte Erkenntnis gilt: Der mimische Ausdruck von elementaren Emotionen ist überall auf der Welt derselbe, und er wird von sämtlichen Menschen universell richtig verstanden. Diese Wahrheit hatte bereits Charles Darwin in seinem 1872 veröffentlichten Werk Der Ausdruck der Gemüthsbewegungen bei dem Menschen und den Thieren postuliert.

SEIN GESICHT VERLIEREN
Was nicht heisst, dass aus unseren Gesichtern fortwährend Emotionen sprechen würden. Gerade nicht. Die Sache ist weit komplexer. Im Verlaufe der Kindheit und Jugend haben wir es uns abgewöhnt, das, was in uns vorgeht, über unser Gesicht anderen gegenüber auszudrücken. Starke Gefühle zu zeigen gilt als Schwäche, cool sein ist alles. So kommt es beispielsweise zum verlegenen Lächeln der japanischen Probanden im bereits erwähnten Versuch. Es ist eine antrainierte Reaktion, um zu signalisieren: Das ist mir peinlich. Mit meinem Lächeln zeige ich dir, dass es mir unangenehm ist, weiter in diesen Bereich vorzudringen. Hinter der Fassade des Amusements hält sich ein starkes Gefühl versteckt, dessen Ausdruck in der Gesellschaft verpönt ist.

Foto Fa.bianWem dennoch der Ausdruck eines starken Gefühls passiert, läuft Gefahr, «sein Gesicht zu verlieren», was ja nichts anderes bedeutet, als dass sich die Peinlichkeit nun auf sämtliche Mitglieder der Gesellschaft verteilt. Wer dem Menschen «ohne Gesicht» über den Weg läuft, ist von dessen Anblick peinlich berührt und sucht weiteren Begegnungen aus dem Weg zu gehen. Der Gemiedene gerät so an den Rand der Gesellschaft und führt so etwas wie eine unsichtbare Existenz.
Dass Mitte 2009 ausgerechnet dem Bundespräsidenten der Schweiz gerade dies geschah, dass der sichtbarste Politiker seines Landes vor aller Leute Augen gemäss eigener Aussage sein Gesicht verlor, und zwar im glücklosen Umgang mit einem in seiner Familienehre verletzten arabischen Potentaten, dessen Gesicht vor langer Zeit bereits zur ausdruckslosen Maske erstarrte, führt vor Augen, wie vielfach aufgeladen und widersprüchlich unsere Fähigkeit ist, Gesichter zu lesen.
Wir blicken hin, wir nehmen wahr, wir sind berührt, und wir halten zurück. Als Erwachsene sitzen wir gewissermassen alle am Tisch einer Pokerrunde und üben uns mehr oder minder geschickt darin, aus den Gesichtern der anderen möglichst viel akkurate Informationen herauszulesen, während wir von uns selber möglichst wenig preisgeben.

WAS WIR DENNOCH ZEIGEN
Man kann das beklagen, und man kann schwärmen von Weltgegenden, in denen Leute noch ohne Botox und plastische Chirurgie auskommen, wo Emotionen unverstellt aus den Gesichtern fliessen. Doch das hilft nicht weiter. Unser Gesicht ist ein viel zu feines Instrument und unsere Wahrnehmung der entsprechenden Signale viel zu ausgeprägt, als dass sich der Sache mit einem Schwarz-Weiss-Schema beikommen liesse. Foto Fa.bian
Gesichter sprechen immer, egal wie beherrscht sie sind und wie subtil die Signale sind, die sie aussenden. Menschen, deren Gesichtsmuskulatur gelähmt ist, sind uns zutiefst unheimlich, da wir bei ihnen tatsächlich nicht lesen können, was in ihnen vorgeht. Bei allen anderen tun wir das aber sehr wohl. Wir sind bloss gezwungen, genauer hinzusehen.
Paul Ekman hat den Ausdruck von Emotionen im Gesicht des Menschen wissenschaftlich kartografiert und in einem System namens FACE (Facial Action Coding System) nachvollziehbar beschrieben. Nach seiner Grundlagenforschung spezialisierte sich der emeritierte Psychologieprofessor der Universität von Kalifornien in San Francisco auf das Erkennen von Mikro-Ausdrücken, von Bewegungen, die innert Sekundenbruchteilen durchs Gesicht zucken und die oft mehr aussagen, als ein willentlich aufrechterhaltener beständiger Ausdruck. Wenn man weiss, worauf das Augenmerk zu richten ist, lassen sich solche Zuckungen leicht erkennen und deuten. Besonders Lügen verraten sich durch solch gegenläufige Bewegungen, steht das Gesicht eines Lügenden doch unter erheblicher Spannung – und verschafft sich durch die Zuckung kurzfristig Entspannung. Bereits soll es im amerikanischen Justizwesen mehrere Hundert Profis geben, die Ekmans Erkenntnisse mit Erfolg in der Praxis umsetzen.

Dalai Lama und Paul EkmanENTWAFFNENDE PESÖNLICHKEIT
Sinnigerweise hatte Paul Ekman in jüngerer Zeit aber auch mehrfach Gelegenheit, sich mit einem Gesicht zu beschäftigen, das sich gerade umgekehrt auszeichnet durch Offenheit und Beweglichkeit des Ausdrucks. Der amerikanische Psychologe sass dem Dalai Lama gegenüber und ergründete mit dem Oberhaupt der tibetischen Buddhisten in einer Reihe von Dialogen die Bedeutung von Gefühl und Mitgefühl. Dass Ekman während der wissenschaftlich-buddhistischen Erörterungen das Gesicht seines prominenten Gesprächspartners studierte, versteht sich von selbt. Er tat es unvoreingenommen, da er die Nähe des Dalai Lama nicht aus Verehrung suchte, sondern aus dem lebendigen Interesse heraus, das Wesen von Emotion tiefer zu ergründen und dabei die Sichtweise eines tibetischen Buddhisten näher kennenzulernen, um sie mit den eigenen Erkenntnissen vergleichen zu können.
Selbstverständlich blieb dem Forscher bei den Begegnungen nicht verborgen, dass der Friedensnobelpreisträger von 1989 über das verfügt, was man eine «entwaffnende Persönlichkeit» nennt. Den sprechendsten Beleg dafür fand Ekman im Gesicht des Dalai Lama: «Seine Gesichtsmuskulatur ist derart lebendig und beweglich, dass man denken würde, man habe das Gesicht eines Menschen in seinen Zwanzigern vor sich.» Mit Ausnahme von einigen Kindergesichtern ist das Gesicht des tibetischen Führers das ehrlichste und unkontrollierteste Gesicht, welches Paul Ekman in seiner Laufbahn als Forscher je untergekommen ist. Und wie ein Kind kenne der Dalai Lama auch keinerlei Hemmung, seine Gefühle anderen gegenüber zu zeigen. Liegt darin womöglich der tiefere Grund, dass viele Politiker diesen Mann lieber nicht sehen wollen?

Literatur:

Paul Ekman: Gefühl und Mitgefühl
Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 2009, 354 Seiten, € 24,95.

Victor Chan: Die Weisheit des Verzeihens
Bastei Lübbe Taschenbuch, Bergisch Gladbach 2007, 254 Seiten, € 8,95.

Wir bedanken uns für diesen Beitrag bei Martin Frischknecht vom Magazin Spuren

© Foto Fabian Gehweiler
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