Sein und Werden

Sein und werden

von Mike Kauschke Erschienen in der Zeitschrift Tattva Viveka, www.tattva-viveka.de.

Ein Retreat mit Andrew Cohen
Im August diesen Jahres trafen sich 300 Menschen aus aller Welt zum 2. Being & Becoming Retreat mit dem amerikanischen spirituellen Lehrer Andrew Cohen in den Bergen Colorados – genauer gesagt im Shambhala Mountain Center, einem buddhistischen Retreatzentrum, das vor 40 Jahren vom großen Chögyam Trungpa Rinpoche gegründet wurde. Andrew Cohen gibt schon seit Beginn seiner Tätigkeit als Lehrer vor 24 Jahren Retreats, aber erst seit zwei Jahren in dieser Form des Being & Becoming (also Sein & Werden) Retreats. Nun, was ist damit gemeint? Rein praktisch war es so, dass das Retreat in zwei Teile von je 10 Tagen geteilt war, wovon der erste dem Sein und der zweite dem Werden gewidmet war.
Im ersten Teil vertieften wir uns also alle in den Königsweg ins Sein: die Meditation. Aber obwohl wir täglich viele Stunden zusammen meditierten und viele auch den frühen Morgen oder späten Abend (oder die ganze Nacht) in dem großen Zelt verbrachten, das uns allen als „Teaching Hall“ diente, betonte Cohen immer wieder, dass dies kein Meditationsretreat sei. Denn es gehe weniger darum eine bestimmte Meditationstechnik zu lernen und zu üben sondern um die unmittelbare Erfahrung und das existenzielle Verstehen des erleuchteten Bewusstseins selbst. In diesen direkten Teachings zeigten sich Andrew Cohens spirituelle Wurzeln in der indischen Advaita-Vedanta-Tradition, aus der sein eigener Lehrer kam.
Andrew gab uns vor allem eine Anweisung mit in die Stille: Let everything go – Lass alles los. Er bat uns alle Methoden, die wir vielleicht üben, für diese zehn Tage hinter uns zu lassen, seien es nun Mantren, Konzentration auf den Atem oder was auch immer. Ganz mit leeren Händen wollte er, dass wir alles loslassen, Gedanken, Gefühle, Ideen, Vergangenheit, Zukunft, Raum, Zeit … uns selbst. Ein Feld von vibrierendem befreiten Bewusstsein entstand zwischen uns und wurde mit jedem Tag stärker.
Jeden Vormittag gab es eine lange Session mit Andrew, in der er Fragen beantwortete. Teilnehmer berichteten von ihren Erfahrungen und suchten nach klarerem Verständnis. In seiner direkten Art verwies Andrew immer wieder auf die überwältigende Einfachheit des Seins – Lass alles los – und den grenzenlosen Raum, der sich dadurch in uns auftut. Aber immer wieder machte er klar, dass die Seinserfahrung kein Selbstzweck ist, sondern Grundlage unseres Lebens – und Werdens – werden kann.
Was mich bei diesem Retreat besonders berührte, war Andrews Betonung der confidence, des Vertrauens. Er sagte, dass uns tiefe spirituelle Erfahrungen dieses Vertrauen in die Wirklichkeit und Wahrheit des Seins, des Geistes, des Göttlichen geben können. Ein Vertrauen, dass schließlich unabhängig ist von dem, was wir in jedem Moment erfahren, fühlen oder denken. Ein Vertrauen, auf dem wir ein neues Leben gründen können. Ich habe schon eine ganze Reihe Retreats mitgemacht, von eher „sanften“ therapeutischen Ansätzen bis hin zum Hardcore-Programm 14-tägiger Zen-Sesshins (und einigen Retreats mit Andrew Cohen) und dabei war ich fast immer auf bestimmte Erfahrungen fokussiert. Und natürlich machte ich tiefe Erfahrungen, aber irgendwie war es immer noch nicht genug, es sollte noch stärker und überzeugender sein. Und im Prinzip war ich mit der gleichen Haltung und Hoffnung nach Colorado gekommen: endlich die Erfahrung zu machen, die mich befreien würde.
Aber Andrew drehte sozusagen den Spieß um und zeigte uns, was für eine gierige Haltung dies sei. Hatte ich nicht schon in vielen Erfahrungen die Wahrheit einer tieferen Wirklichkeit erkannt? Warum war ich dann immer noch auf der Suche? Weil ich nicht bereit war zu vertrauen und volle Verantwortung für das zu übernehmen, was ich in diesen Erfahrungen erkannt habe? Und das Paradoxe ist ja, dass wir in dem Moment, wo wir dieses spirituelle Habenwollen (das der große Chögyam Trungpa so treffend als spirituellen Materialismus bezeichnet hat) loslassen, die Freiheit erfahren, die immer schon unsere wahre Natur ist. Dieses tiefe Wissen, gefunden zu haben, ist aber keineswegs der Endpunkt. Hier beginnt das Leben und das Werden.
Und damit sprangen wir aus zehn Tagen Stille in die zweiten zehn Tage Becoming-Retreat. Wir alle hatten, wenn man so sagen will, den Himmel des Seins erfahren. Was bedeutete es nun den Himmel auf die Erde zu bringen? So begann Andrew diesen zweiten Teil und fragte uns alle, ob wir dazu bereit wären, in diesen zehn Tagen zwischen uns den Himmel auf Erden zu verwirklichen. Ob wir bereit wären, die Freiheit, Grenzenlosigkeit, Inspiration und das Vertrauen, dass wir in den ersten Tagen in uns erfahren hatten, nun zwischen uns, in unserem gemeinsamen Menschsein, zum Ausdruck zu bringen.
Anders als im ersten Retreat, das vollkommen im Schweigen stattfand, begannen wir nun zu reden, wenn auch nur zu bestimmten Zeiten. Der Tag begann mit gemeinsamer Meditation, dann trafen wir uns mit Andrew, der einen ca. dreistündigen Vortrag über verschiedene Aspekte einer evolutionären Spiritualität gab. Am Nachmittag trafen wir uns dann zunächst in Gesprächsgruppen von je ca. 25 Leuten. Diese Gruppen waren sorgfältig zusammengestellt, je nach der Erfahrung, die die Teilnehmer mit Andrews Arbeit hatten und wurden von erfahrenen Schülern geleitet. Nach diesen Treffen kamen wir alle wieder zusammen und Andrew hörte vom Leiter und den Teilnehmern jeder Gruppe, was geschehen war, und reagierte darauf.
Diese Gruppen waren das Herz dieses Retreats. Sie waren sozusagen das Laboratorium für den Himmel auf Erden: Wie können wir als unvollkommene Menschen jenseits unseres Egos und unserer Getrenntheit zusammenkommen? Und wie kann in dieser Begegnung unsere innere Freiheit und der Impuls zur Entwicklung zum Ausdruck kommen? Das Faszinierende war, dass alle 300 Teilnehmer eine kreative Antwort auf diese Fragen fanden, die unsere Vorstellungen über das, was für uns als Menschen möglich ist, sprengte.
Die Aufgabe, die uns Andrew stellte, war ständige Entwicklung des Einzelnen und unserer Gruppen. Das heißt, das wir jeden Tag etwas mehr Freiheit, Vertrauen und Einsicht aus unseren Gruppengesprächen mitnehmen und mit dem Rest der Gruppe teilen würden. Und: Das war genau das, was geschah. Es ist nicht so, dass es keine inneren Kämpfe und kein Ringen um Tiefe und Authentizität gab, aber alle hatten das Vertrauen und die Seelenstärke über sich selbst hinauszugehen. Vertrauen war auch hier ein Schlüsselwort: Vertrauen in die eigene Fähigkeit über konditionierte Grenzen zu springen und dem befreiten Interesse eine Stimme zu geben, das Andrew als Authentisches Selbst oder den evolutionären Impuls bezeichnet, der kosmische Werdensimpuls, der in unserem Bewusstseins Ausdruck sucht.
Meine Gruppe war eine Gruppe von Männern mit einem breiten Spektrum von Erfahrungen, einige kannten Andrew schon 20 Jahre, andere erst seit kurzem. Und auch das Alter reichte von 20 bis 90. Wir kannten uns kaum und in den ersten Meetings hielten sich viele von uns zurück und trugen kaum zu den Gesprächen bei. Und es wurde schnell klar, dass es so nicht funktioniert, dass wir so nicht die Freiheit und Inspiration zwischen uns kreieren und erfahren konnten, die das Kennzeichen des erwachten Authentischen Selbst sind. Das Beeindruckende aber war, wie schnell und mit welcher „spirituellen Vehemenz“ wir diese Zurückhaltung durchbrachen. Fühlte es sich am Anfang noch wie das Fahren auf einer holprigen Piste an, hoben wir schon bald ab, dass heißt zwischen uns zeigte sich durch unseren individuellen Einsatz eine kreative Bewusstseinstiefe, die uns immer mehr in eine dynamische Einheit zog, in der wie aus einer geistigen Quelle immer neue Einsichten durch uns und zwischen uns auftauchten und spürbar wurden. Es war, als würde ein Bewusstsein durch die verschiedenen Menschen sprechen und dabei war die Individualität jedes Einzelnen total wichtig. Andrew Cohen nennt das autonomy und communion. Und auch hier stürzten viele meiner Ideen in sich zusammen. Hatte ich bisher gedacht, dass ich als Individuum an mir arbeiten müsse, um befreit, transparent und authentisch mit anderen Menschen zu sein, zeigte diese Erfahrung eine ganz andere Richtung. Durch die selbstvergessene Teilnahme an diesem intersubjektiven Prozess wurde auch ich als Einzelner immer freier, sprach durch mich eine ekstatische Positivität und Begeisterung für das Mögliche, die jenseits aller Konditionierungen erwacht. Und genau das Gleiche beobachtete ich auch in den anderen. Und wenn wir dann aus unseren Treffen in das Meeting mit den anderen Gruppen kamen, war auch hier der gleiche Spirit spürbar. Durch diese gemeinsame Bereitschaft über individuelle und kulturelle Begrenzungen hinauszugehen, entstand in der ganzen Gruppe der 300 Teilnehmer ein Bewusstseinsfeld, das aufgeladen war mit der Inspiration des Möglichen und unserer Verantwortung für dieses neue Potenzial: Eine Kultur, die auf spiritueller Freiheit und kreativer Absicht beruht.
Die Mitwirkung an der Bildung und Stabilisierung einer solchen Kultur ist das vorrangige Ziel von Andrew Cohens Arbeit und seines „Discovery Cycle“, einem jährlichen Zyklus von Veranstaltungen, in dessen Zentrum das jährliche Being & Becoming Retreat (im nächsten Jahr in der Toskana!) und eine internationale Konferenz (zum ersten Mal 2012) stehen. Der Discovery Cycle gründet auf der Einsicht, dass Bewusstsein und Kultur sich nur miteinander entwickeln können – und dass die Verantwortung für diese Entwicklung in unseren Händen liegt.

Mike Kauschke ist Redakteur der Zeitschrift EnlightenNext und übersetzt spirituelle Literatur aus dem Englischen. mkauschke@enlightennext.org

Andrew Cohen in Deutschland:
Sein & Werden – Wochenend-Retreat
26.-28. November in Oberursel, Nähe Frankfurt am Main

Weitere Informationen unter www.andrewcohen.org/retreats/germany2010-de.asp

Weitere Informationen rund um Evolutionary Enlightenment in Deutschland erhalten Sie unter: info.frankfurt@enlightennext.org
Andrew Cohen ist Herausgeber der Zeitschrift EnlightenNext, Infos zur deutschen Ausgabe unter: www.enlightennext.de/magazin

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